"Warnschüsse wären in diesem Fall gerechtfertigt gewesen"
Juliane Lang und Christina Wendt haben eine erste Reflexion über die hier veröffentlichten Interviews verfasst. Diese erschien im Buch "Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt", das die Opferperspektive e.V. anlässlich ihres 15jährigen Bestehens herausgegeben hat und ist hier nachzulesen. Das gesamte Buch kostet € 19,90 und ist im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen (ISBN: 978-3-89691-947-2).
Wir müssen reden!
Die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen liegen mehr als 20 Jahre zurück. Die Jahrestage erinnern an eine Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche, an eine Zeit geprägt von dem überstürzten Anschluss der DDR an die BRD, in der eine deutschnationale und rassistische Gewalt unsere Gesellschaft mit prägte. Auch in Brandenburger Kleinstädten gab es in dieser Zeit unzählige Angriffe und einige pogromartige Ausschreitungen von Neonazis und Skinheads, aufgebrachten BürgerInnen und Jugendlichen. Ziel der Angriffe waren AusländerInnen , Linke und viele andere, die in einer gesellschaftlich schwächeren Position wahrgenommen wurden. Bei all diesen Menschen machte sich Angst breit. Nicht nur die Angst vor einer ungewissen Zukunft im wiedervereinigten Deutschland, sondern auch die Angst ums nackte Überleben. Die Erinnerungen der Betroffenen tauchen in der offiziell erzählten Geschichte der Anfangsjahre der neuen Republik nicht auf. Vielleicht, weil es schwer fällt, sich zu vergegenwärtigen, wie unsicher ihr (Über)Leben in der jüngsten deutschen Geschichte war. Aber eine Demokratie ist nur so stark, wie ihre kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Darum ist es höchste Zeit, die Betroffenen zu hören und ihre Erlebnisse zur Kenntnis zu nehmen.
Was war damals los auf den Straßen und in den Kommunen jenseits der großen Politik? Es gibt bisher kein Archiv, das Dokumente aus den Jahren 1989-1993 zugänglich macht. Aber es gibt viele Menschen, die sich erinnern und berichten können. Wir, das Demokratische JugendFORUM Brandenburg, haben vor zwei Jahren begonnen, dieses Wissen in einem Archiv zusammenzutragen. Neben einer umfangreichen Zeitungsrecherche, Dokumenten- und Bildersammlung haben wir Interviews mit 11 Personen geführt, die Anfang der 1990er Jahre in Brandenburg politisch-gesellschaftlich aktiv waren oder selbst betroffen waren von akuten Bedrohungssituationen. Diese Interviews sind ein Anfang. Denn wir wissen, dass noch viele Stimmen nicht gehört wurden, viele Erinnerungen noch aufgezeichnet werden müssen.
Die vollständigen Interviews stehen auf www.djb-ev.de zum Nachlesen zur Verfügung. Zur Kontextualisierung und zeitlichen Einordnung des Besprochenen haben wir auf eine Zeitungsrecherche aus der Tageszeitung „Neuer Tag“ , der „Märkischen Oderzeitung“ (MOZ) und der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ (MAZ) von 1989 bis 1992 zurückgegriffen. Von den Interviewten waren neun männlich und zwei weiblich. Viele der GesprächspartnerInnen wurden damals von Neonazis angegriffen. Zwei von ihnen waren so genannte Vertragsarbeiter aus unterschiedlichen afrikanischen Staaten, sechs ordneten sich der alternativen Jugendszene zu. In diesem Artikel wollen wir die Zustände von 1990-93 beschreiben, so wie sie sich uns durch die Recherchen und Zeitzeugengespräche darstellen.
Systemwechsel ohne System
Aus den Interviews und dem Archivmaterial wird deutlich, dass die Zeit zwischen November 1989 und 1993 eine besondere war. Durch das plötzliche Ende der DDR und den prompten Anschluss des ehemaligen DDR – Staatsgebiets an die BRD fiel das bestehende Wertesystem mit brutalen Folgen auseinander. Die damit einhergehenden neuen Freiheiten sorgten zwar für Begeisterung. Der Bruch mit dem Bisherigen erzeugte aber auch eine Leere, die begleitet war von Zukunftsängsten, Unsicherheit und Identitätsverlust der DDR-BürgerInnen. 1989/90 war für viele eine so schnelllebige Zeit, dass für die Entwicklung von Bewältigungsstrategien, ja zum Teil nicht einmal für die Wahrnehmung aller Veränderungen, ausreichend Zeit blieb. Sehr anschaulich beschreiben die folgenden Zitate aus einem Interview mit zwei Personen aus Königswusterhausen die damalige Situation:
„Bei der Kreisdelegiertenkonferenz habe ich mich als erstes gemeldet: 'Zur Geschäftsordnung würde ich vorschlagen, dass einer am Radio sitzt und die Nachrichten verfolgt, damit wir hier drin nicht über Dinge diskutieren, die längst schon erledigt sind, so schnell war die Zeit.“
Die Ereignisse überschlugen sich, während noch über politische Veränderungen und Erneuerungen des DDR – Sozialismus diskutiert wurde, haben massive Auswanderungsbewegungen und Anschlussrhetorik andere Fakten geschaffen. Die Montagsdemos in Leipzig starteten mit „Wir sind das Volk“-Parolen und drückten einen klaren Anspruch auf Demokratisierung aus. Sie endeten mit nationalen Parolen und Reichskriegsflaggen neben Deutschlandfahnen. Diese Flut von Positionen spiegelte sich in der Presse dieser Jahre wieder. Alles wurde in Frage gestellt und es schien für einen kurzen Moment völlig offen, wessen Interessen sich durchsetzen werden.
„Du wusstest auch gar nicht, an wen du dich wenden solltest, weil alles anders war. [...] Wir waren mit allem überfordert. […] Weißt du, du willst ein paar Knöpfe kaufen und weißt gar nicht, ob es das Geschäft noch gibt. Mit den simpelsten Sachen ging das los. Da war jeder mit sich beschäftigt, es gab keine Organisation, ...“
Was auf der einen Seite Freiheit und viel Spielraum für Veränderungen bedeutete und emanzipatorische Ideen oder Modelle hervorbrachte, war auf der anderen Seite eine lebensbedrohliche Gefahr für viele Menschen. Der Wegfall der Sicherheitsorgane, bzw. deren Desorientierung führte zu einer „regierungsfreien Zeit.“ mit vielfältigen Folgen:
„Und weil es keine gab, haben das andere auch genutzt. Hier hat keiner mehr entschieden, hier hat kein Ordnungsamtsleiter mehr entschieden, hier hat kein richtiger Bürgermeister mehr entschieden. Die einen waren schon neugewählt, durch den 6.Mai , aber die Beamten die dort saßen waren noch aus dem alten Apparat und wussten 'Wir sind sowieso nicht mehr lange hier.“
Diesen Freiraum nutzten auch Neonazis für ihre Strukturen. Waren sie zu DDR-Zeiten noch organisatorisch unbedeutend, haben die „Nazis ein leeres Feld vorgefunden, das sie bewirtschaften konnten ohne mit Widerstand rechnen zu müssen.“
Uta Leichsenring, die neu eingesetzte zivile Führungskraft des Schutzbereiches Uckermark/Barnim, benennt diese Unsicherheit auch innerhalb der Polizei als Problem:
„Und was ich dann rekapituliert habe, was an diesem Tag [Tag des Angriffs auf Amadeu Antonio ] in Eberswalde vor sich gegangen ist, das war sehr erschreckend. Erschreckend deswegen, weil die Unsicherheit innerhalb der Polizei mit dafür verantwortlich war, dass ein Mensch erschlagen wurde. Meine Schlussfolgerung daraus war, nachdem die Fakten und die Ermittlungsberichte dazu auf dem Tisch lagen, dass es hätte verhindert werden können.” „Sie [Die Polizei] war der Situation nicht gewachsen, sie hat einerseits die Gewaltbereitschaft unterschätzt, andererseits aber auch nicht polizeilich adäquat reagiert, bei Straftaten ist sie nicht eingeschritten.”
„Es war erstaunlich, dass es bei uns keine Toten gab“
Die Zeit Anfang der 1990er Jahre war geprägt durch brutale Gewalt und Hass gegen Menschen, die von den Angreifern als gesellschaftlich nicht gewollt ausgemacht wurden: ehemalige VertragsarbeiterInnen, deren Perspektive in Deutschland unklar war, Linke, deren 'Projekt' mit der DDR gescheitert war, Obdachlose, die sich nicht vom Versprechen des Kapitalismus disziplinieren ließen und viele andere. Einige unserer InterviewpartnerInnen haben ihre Angst beschrieben: Der ehemalige Vertragsarbeiter Jone Munjunga und seine Kollegen in Eberswalde, die vor einigen Wochen noch in den Betrieben gearbeitet hatten, trauten sich kaum noch auf die Straße, um ihre alltäglichen Einkäufe zu erledigen. Durch den Mord an Amadeu Antonio im Jahr 1990 verschärfte sich die Situation weiter:
„Ich hatte schon vorher Angst. Als ich von dem Mord gehört habe und erfahren habe, dass es eine Jagd von vielen Jugendlichen auf Amadeu war, war das nicht mehr vergleichbar mit der Angst vorher. So ging es uns allen.“ „Die Zeit nach dem Mauerfall war für uns wie Selbstmord, wenn wir alleine auf die Straße gegangen oder alleine Bus gefahren sind.“
Die Angst war allgegenwärtig und eine Unterstützung vor Ort nur marginal vorhanden. Niemand war in der Lage oder willens, die ehemaligen VertragsarbeiterInnen in Eberswalde vor rassistischen Angriffen zu schützen und der Mord an Amadeu Antonio hat das allen noch einmal vor Augen geführt. Die Polizei war Zeuge des Mordes und hat ihn nicht verhindert. Das Vertrauen in die Polizei war erschüttert. „Wir hatten zu dieser Zeit keinen Schutz.“ Dazu kam die Vereinzelung. „Ich habe Angst gehabt, irgendwo hin zu fahren. Ich bin auch nicht spazieren gegangen, ich war mehr zu Hause. Meine Freundin hat alles erledigt, ist einkaufen gegangen. Ich war lieber zu Hause, weil ich viel Angst hatte.“ Für Jone Munjunga wurde die Situation zu gefährlich: „Und dann haben sie [EberswalderInnen] mir gesagt, dass ich weg muss, weil ich in Gefahr bin. Einmal haben wir uns einen ganzen Tag in einer Kirche versteckt, so dass wir uns treffen konnten und die Leute aus Berlin haben uns dorthin gebracht. Nach einer Weile habe ich dann entschieden, dass ich weggehe.“ Mit Unterstützung der Antirassistischen Initiative (ARI) aus Berlin geht Jone Munjunga nach Stuttgart. „Die damalige Situation vergesse ich nicht! Wir haben Angst gehabt auf die Straße zu gehen, auch wenn wir in der Gruppe waren. Wenn wir zum Beispiel einkaufen gegangen sind, waren wir unsicher ob wir wohl lebendig wieder nach Hause kommen. Das war die Zeit damals.“
Ibrahimo Alberto kam als Boxer im Oktober 1990 nach Schwedt. Er war vorher Vertragsarbeiter aus Mosambik in Berlin und wollte sich in Schwedt seiner Boxkarriere widmen. Schnell war er auch als Übersetzer, 'Seelsorger' und Vermittler bei den vielen rassistischen Angriffen tätig. Er schildert die Situation als eine sehr bedrohliche. „Also konkret gab es immer Kleinigkeiten, immer Warnungen, dass sie [die Nazis] die Ausländer überfallen. Und die Ausländer mit bestimmten Merkmalen sind dann immer zu viert, zu fünft, zu sechst gelaufen. Aber wenn einer einen Fehler gemacht hat, der wurde richtig zusammen geschlagen.“
Die Vertragsarbeiter aus Angola, Mosambik, Kuba oder Vietnam, die geblieben waren, blickten einer rassistischen Gewalt und einem Hass in der Bevölkerung entgegen, den sie nicht für möglich gehalten hätten. „Der wesentliche Unterschied war, dass die Politik der DDR die Ausländer geschützt hat. […] man konnte auf die Straße gehen und wurde auch nicht beschimpft. Wir waren isoliert und den Rassismus hat man nicht weiter gesehen.“ sagt Jone Munjunga rückblickend.
Flüchtlinge erlebten ähnliche Bedrohungsszenarien. Rassistisch motivierte Angriffe und Angriffsversuche auf Asylbewerberunterkünfte und Aussiedlerwohnheime waren alltäglich.
Marietta Böttger, Ausländerbeauftragte seit 1991 in der Stadt Eberswalde, war Zeugin einer solchen Situation: „Ich war abends zu Hause, und mit einem Mal hörte ich dieses 'Deutschland den Deutschen, Ausländer raus' und schaute aus dem Fenster, und die marschieren unten in der Robert-Koch-Straße an unserem Haus vorbei. Ich habe mich an '33 erinnert gefühlt, das war schon mehr als beängstigend.“
Die organisierten Neonazis prägten das Straßenbild mit eindeutiger Symbolik: Glatze, Springerstiefel und Bomberjacke war die uniforme Nazi-Bekleidung dieser Zeit. Ganze Stadtteile wurden kulturell von Nazis vereinnahmt und Angriffe gegen alle, die sich ihnen in den Weg stellten, standen auf der Tagesordnung. Auf die Straße zu gehen bedeutete für AntifaschistInnen, Menschen mit Migrationshintergrund, linksalternative Jugendliche in solchen Gegenden eine Gefahr für Leib und Leben. Um einen Schutz musste sich jeder selbst kümmern: einige bewaffneten sich oder bewegten sich nur noch in größeren Gruppen, andere zogen sich komplett in die Isolation zurück. Schutz wurde bei den Flüchtlingsunterkünften, Wohnheimen der VertragsarbeiterInnen, linken Hausprojekten und Kneipen selbst organisiert. Auf staatliche Organisationen wie die Polizei konnte sich in der Zeit niemand verlassen.
Holger Zschoge, zur damaligen Zeit Lehrer in Angermünde, beschreibt die Situation in Schwedt Anfang der 1990er wie folgt:
„In den großen Plattenbausiedlungen in Schwedt hat es von Anfang an total gekracht. Hier gab es große soziale Probleme und eine extrem explosive Stimmung, wo Leute umgebracht worden sind. Wo es wirklich ganz schwere rechte Angriffe mit ins Koma prügeln und sonst irgendwas gab. Wo es Aktionen von Nazis gab, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, die aber im Straßenbild so alltäglich und normal waren, dass sich wirklich Menschen, die sich anders organisierten, nicht alleine auf die Straße trauen konnten.“
Die Gesellschaft schien handlungsunfähig und eingeschüchtert. Es gab teilweise Schutz und Unterstützung aus Berlin, aber im Alltag waren die Menschen auf sich gestellt. Die Kommunikation war in der Zeit ohne Handy und SMS viel schwieriger als heute. Oft konnte man nur noch reagieren und versuchen das Schlimmste zu verhindern: „Wenn da 50 Nazis nachts um 12 anrückten und durch die Stadt zogen und 'Heil Hitler' brüllten, …. Dann ging es darum, wie kriegst du die wieder runter von der Straße, wie hinderst du die daran, das Asylbewerberheim, das Infocafé oder sonst was anzugreifen. Da hast du reagiert aufgrund der Lage und nicht aufgrund eines großen Konzeptes“, erinnert sich Zschoge.
Dazu kam die „Das Boot ist voll“- Rhetorik von Bundespolitikern mit der Forderung, das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen. Bereits in der alten BRD hatte u.a. die CDU mit diesem Slogan Wahlkampf geführt. Vor der Wahl 1990 wurde die beschriebene Stimmung für eine Neuauflage der rassistischen Kampagne genutzt und damit gleichzeitig weiter angeheizt. Mit dem Ziel der Abschaffung des Asylrechts wurde auch nach der Wahl weiter systematisch Stimmung gegen Asylsuchende gemacht. Fast alle Themen der Nazis wurden von der etablierten Politik bedient. Kohl stellte sogar die Oder-Neiße Grenze in Frage. Das gab Nazis und rechten Jugendlichen den Eindruck, 'Vollstrecker' eines politischen Willens zu sein. Holger Zschoge resümiert: „Die Nazis waren fast mehrheitsfähig und das haben die auch gespürt. Das Infocafé ist 36 Mal angegriffen worden. Mit allen Mitteln, die wir kennen: Brandanschläge, mit irgendwelchen Rammböcken, mit einem Autoanhänger Gitter rausziehen, mit 50 Mann stürmen.“ Das Infocafé in Angermünde war im Landkreis Uckermark der einzige Klub für Jugendliche, die keine Nazis sein wollten.
Aus Königs Wusterhausen wird von besonders militanten Angriffen berichtet, die sich durch die neunziger Jahre zogen: „Trauriger Höhepunkt war 1994, der Schusswechsel. [...], als Nazis wirklich aus dem Auto heraus versucht haben, einen umzufahren, [...] ein junger Punk der dort wohnte, 17 Jahre alt, und dann aus dem Auto heraus mit einer scharfen Pistole, [...] auf das Haus geschossen worden ist, in Kauf nehmend, dass [...] Tötungen hätten passieren können.”
In Dolgenbrodt , nahe Königs Wusterhausen, wird 1992 das rassistische Potential der Gesellschaft deutlich: „Ein Dorf war sich einig, dass asylsuchende Ausländer dort keinen Platz finden sollten, und damit haben sie das Ding [Asylbewerberheim] angezündet, beziehungsweise anzünden lassen. Da war man sich dann zu fein zu, das selber anzuzünden. Laut mehrmaliger Aussage des damaligen Täters wurde das Geld durch das Dorf gesammelt und jemand dafür bezahlt.”
Ähnliche Situationen werden in den Interviews aus Frankfurt/Oder und Cottbus beschrieben: „Ich kannte so etwas nicht, dass man rumzieht und irgendwelche Leute verprügelt. Ich kannte auch nicht, dass man selber verprügelt wurde. Ich kannte, dass da irgendwelche Polizisten waren und irgendwelche Stasi-Leute die uns überwachen. Aber dann kamen auch Leute aus der Bevölkerung, die einfach rumzogen um Kommunisten zu prügeln. Obwohl ich gar kein Kommunist war.“ „In dieser Zeit, so '90/'91, gab es da regelmäßig Überfälle auf das Mikado . Da kamen dann drei, vier Autos vorbei und dann hieß es 'Die Nazis sind da'. Daraufhin sind dann die Leute alle raus und haben probiert, die Nazis abzuwehren. Ich habe vor diesen Leuten wirklich Angst gehabt, vor diesen Nazis.“
Keine Gewalt war auch keine Lösung
Angesichts einer solchen Bedrohungssituation stellten wir uns als Interviewende die Fragen: Was wurde getan? Was hat die Gesellschaft getan, was die Ordnungskräfte? Hat sich die Zivilgesellschaft dazu verhalten? Welche Ansätze beurteilen die Zeitzeugen im Rückblick als erfolgreiche Strategien?
Der Vertragsarbeiter Jone Munjunga aus Eberswalde berichtet, wie wichtig es war, gewarnt worden zu sein. Gewarnt vor Nazis wurden sie unter anderem durch EberswalderInnen: „Die 15 und 16jährigen waren diejenigen, die zu uns gekommen sind und uns gewarnt haben.“
Ein weiterer wesentlicher Schritt zur Sicherung des Überlebens war Hilfe von außen. Hier wird von unterschiedlichen Interviewten die Hilfe aus Berlin angesprochen, die aber im Alltag und bei Übergriffen in der Nacht nicht mehr vor Ort war. Dennoch zeigt Jone Munjunga, wie wichtig konkrete Hilfe war: „Die Antirassistische Initiative aus Berlin hat für uns Unterstützung organisiert. […] Diese Unterstützung hat uns geholfen. Sie [die Nazis] haben gesehen, dass die Schwarzen, die geblieben sind, nicht alleine waren und Unterstützung bekommen.“ „Als bekannt war, dass Amadeu wegen seiner Hautfarbe getötet wurde, kamen öfter Leute zu uns ins Wohnheim um uns zu schützen. Mit denen sind wir dann zusammen auf die Straße und zum Einkaufen gegangen. Sie haben eine Demo [...] organisiert. Durch die Unterstützung aus Berlin haben die Leute mehr Respekt bekommen und damit kehrte eine Veränderung ein, wie beispielsweise bei den Beschimpfungen. Das bedeutete aber nicht, dass wir keine Angst mehr hatten. Es war eine sehr, sehr schlechte Zeit.“ Durch das offensive Entgegentreten und Gegenwehr erlangten die Betroffenen schließlich einen minimalen Handlungsspielraum zurück.
Sich zu organisieren ist auch für andere Betroffene eines der wichtigsten Überlebensmittel gewesen. Auch Holger Zschoge aus Angermünde beschreibt: „Wir haben junge Antifas mit größeren Gruppen mittags von der Schule abgeholt, um zu verhindern, dass die Faschos sie verprügeln.“
Und sie gingen noch einen Schritt weiter und versuchten gemeinsam die Opfer zu schützen: „Wir waren im Landkreis bis Berlin über Telefonketten jedes Wochenende unterwegs. Wir waren vor den Asylbewerberheimen mit einem paar Dutzend Leuten und haben versucht Provokationen und Angriffe abzuwehren.“
Politik und Polizei waren mit der Situation überfordert. Das wird von Betroffenen ebenso wie von der damaligen Polizeipräsidentin, Uta Leichsenring, beschrieben. Von Betroffenen wurde die Polizei auch aus anderen Gründen nicht als Institution angesehen, die sie schützen konnte. Denn allein die Polizei zu rufen konnte schon gefährlich werden, wie Holger Zschoge in einem Beispiel verdeutlicht:
„Es gab mal einen großen Angriff auf das Infocafé. […] Da haben 50 Nazis versucht, das Infocafé zu stürmen. Da haben wir dann mal die Polizei gerufen. Daraufhin hat die Polizei das Infocafé gestürmt und hat alle festgenommen, die drin waren. [...] Zwei 14jährige Mädchen, die ihren Ausweis nicht dabei hatten […] haben sie mitten durch die wartende Menge der Nazis nach Hause geschickt, um ihre Ausweise zu holen. Die sind natürlich verprügelt worden und die Polizei stand da und hat gesagt: 'Wir können dagegen nichts tun [...]. Sie sind ja selbst schuld, wenn sie ihren Ausweis nicht dabeihaben'“.
Jone Munjunga machte ebenfalls schlechte Erfahrungen, die zudem noch die Ungewissheit hinterließen, ob die Polizei nicht auch Träger rassistischer Ressentiments war: „Die Polizei hat uns gefragt, warum wir nicht nach Hause zurück gegangen sind. Das wäre doch viel besser und schöner für uns, wenn wir alle in Angola wären. […] Es gab keinen Schutz.“ Die Polizei hat beim Mord an Amadeu Antonio versagt: „Wenn die Polizei ihre Arbeit gemacht hätte, würde Amadeu Antonio noch leben. Die Polizei hat gewusst was kommt. […] was die Skinheads vorhaben und die Polizei war woanders und hat den Skinheads freie Hand gelassen, statt ihn und uns zu schützen.“
Oft blieb den Betroffenen neben dem Rückzug nur die Wahl, sich selbst zu organisieren, sich selbst zu verteidigen und Nazis selbst anzugreifen, um ihre Organisierung einzudämmen. So berichtet ein damaliger alternativer Frankfurter Jugendlicher über diese offensive Selbstverteidigung: „Das hat funktioniert. Ich sag auch persönlich, dass es wichtig war. […] wenn die dann mal was auf die Mütze gekriegt haben, dann waren es danach nur noch halb so viele. Denn sie kannten das gar nicht, weil sie bis dahin immer nur ausgeteilt haben.“ Die Ansätze offensiver Selbstverteidigung standen gleichberechtigt neben Ansätzen von Kulturarbeit. Die Frankfurter Interviewten beschreiben das Zusammenspiel der verschiedenen Ansätze als erfolgreiches Mittel zur Eindämmung der Nazigewalt.
„Du konntest dir nicht anders helfen – du hast einfach mit Gewalt reagiert.“
Die Interviewten waren sich einig, Polizei und Politik waren dem rassistischen Mob und den Neonazis nicht gewachsen und mit dem Ausmaß der Gewalt überfordert. National befreite Zonen waren das Ergebnis von gewaltvollen Eroberungen des öffentlichen Raums.
Viele, die sich mit dieser Situation nicht abfinden wollten, sind aus solchen Regionen weggezogen. Aber Flüchtlinge, ehemalige VertragsarbeiterInnen und auch Jugendliche, die ihren Schulabschluss noch nicht hatten, konnten die jeweilige Region nicht ohne weiteres verlassen und waren auf sich selbst gestellt. Selbstschutz im Alltag war überlebenswichtig und konnte viele Formen annehmen. Die bereits genannten Schulwegbegleitungen oder der Schutz von Asylbewerberunterkünften waren solche Handlungsoptionen. Selbstbewaffnung und Selbstverteidigung war eine weitere Möglichkeit, die den Betroffenen Bewegungsfreiräume schaffen konnte. Dem prügelnden rechten Mob, dem aktiven Wegschauen und der Ohnmächtigkeit breiter Teile der Bevölkerung konnten Betroffene nur mit einer eigenen Organisierung entgegentreten.
Der Selbstschutz von Linken und MigrantInnen war überlebensnotwendig. Doch Teilhabe an Gesellschaft ist mehr als das nackte Überleben durch Selbstschutz. So entwickelten sich Formen gesellschaftlicher Organisierung aus dem Bedürfnis heraus, die neue Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Vielerorts gründeten sich Vereine oder Runde Tische gegen Rechts, Netzwerke und Aktionsbündnisse. In Eberswalde gründete sich beispielsweise schon 1992 der „In- und AusländerInnenkreis Eberswalde“. Die Engagierten trafen sich regelmäßig im Zentrum „Wege zur Gewaltfreiheit“, tauschten Informationen aus und überlegten gemeinsam, was getan werden könnte. Frau Böttger erinnert sich: „Das war ein Glücksfall, weil es dort Menschen gab, die sich im Umgang mit Gewalt, gewaltfreien Konfliktlösungen, Gegenstrategien und dergleichen bereits seit der Wende beschäftigt hatten.“
In gesellschaftlichen Krisensituationen, wie Anfang der 1990er in Brandenburg, werden Menschen mit Brüchen in allen Lebensbereichen konfrontiert, die brutale Auswirkungen haben. Linke, alternative emanzipatorische Konzepte sind in solchen Situationen besonders gefordert. Der Rückblick auf die 1990er Jahre soll uns Anlass sein, nachzudenken, wie antifaschistische und demokratische Kräfte in Krisen- und Umbruchsituationen eine solidarische Gegenstrategie entwickeln können. Nach 20 Jahren ist es an der Zeit, zurückzublicken und darüber zu reden, was damals geschah, um Parallelen zu anderen, aktuellen sozialen Krisen zu ermitteln.
Juliane Lang und Christina Wendt
Dieser Artikel ist im Oktober 2013 erschienen in:
"Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt"
Opferperspektive e.V.
2013 - 381 Seiten - € 19,90
VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
ISBN: 978-3-89691-947-2