Hintergründe des Rechercheprojekts "Blühende Landschaften"

Wie war das – Anfang des 1990er Jahrzehnts in Ostdeutschland? Ein Staat brach zusammen und es taten sich für ein paar Monate unendliche Möglichkeiten auf. Die Reste des Staats wurden übernommen und es brach noch mehr zusammen: wirtschaftliche und soziale Strukturen, Existenzen. Deutschland wurde Fußballweltmeister und die D-Mark das gängige Zahlungsmittel. Und in all dem explodierte die Gewalt.

Jeder Schlägertyp schor sich die Haare und kaufte sich eine grüne Bomberjacke. Das Deutschland auf ihren Aufnähern hatte die Grenzen von 1938. Westdeutsche Neonazis tingelten durchs Land und leisteten Aufbauarbeit. Ihre ostdeutschen Kameraden standen ihnen in nichts nach: „Deutschland, Deutschland!“ Politik, Polizei, Sozialarbeit und Medien versagten weitgehend. Vielmehr wurde die Einschränkung des Asylrechts Regierungsprogramm.

Als Orte, an denen Mobs aus Neonazis und „normalen“ Deutschen tagelang militant gegen Ausländer vorgingen, blieben Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 in der Erinnerung haften. An ihnen wird heute die Situation Anfang der 1990er festgemacht. Aber was geschah abseits der Symbole? Wie war es in Guben? Dort schlossen sich Neonazis in der „Gubener Heimatfront“ zusammen, die bis zu 200 Leute mobilisieren konnte und berüchtigt für ihre Gewalttätigkeit war. Erinnert sich jemand an die Angriffe auf die sogenannten und nicht mehr benötigten „Vertragsarbeiter“? Und wie war das mit den Angriffen auf Asylbewerberheime in Cottbus, Lübbenau oder Schwarze Pumpe? Wer kann sich daran erinnern und wer will sich erinnern? Und was hat das alles mit heute zu tun?

Im Demokratischen JugendFORUM Brandenburg (DJB) – übrigens auch der Trägerverein von RE:GUBEN – hat sich eine Projektgruppe zusammengefunden, die solchen Fragen nachgeht. Mit umfangreichen Zeitungsrecherchen und Zeitzeugeninterviews hat sie begonnen, die Situation im Land Brandenburg zwischen 1989 und 1992 zu rekonstruieren. Eine Analyse und einen Teil der Dokumente macht der Verein nun online zugänglich. RE:GUBEN sprach darüber mit Daniela Guse und Susanne Lang vom DJB.

Was kann man online von euerm Projekt sehen?

DG: Grundsätzlich kann man sagen, dass wir Material zusammentragen. Wir haben in den vergangenen Monaten Interviews mit Zeitzeugen geführt, die die Entwicklung in Brandenburg Anfang der 90er miterlebt haben. Unser Ansatz war, etwas über Neonazi-Gewalt und rassistische Pogrome in der Zeit herauszufinden. Dazu haben wir Leute befragt, mit denen wir eine gemeinsame Sprache finden konnten. Diese Interviews machen wir zugänglich. Dazu haben wir einen Text erarbeitet, der verdeutlicht, wie die Situation von den Leuten wahrgenommen wird. Der Titel „Warnschüsse wären in diesem Fall gerechtfertigt gewesen“ ist aus einem Interview mit Frau Leichsenring, damals Polizeipräsidentin in Eberswalde, die darin über den Tod von Amadeu Antonio nachdenkt, wie die Situation in der Polizei und in der Stadt war, wie es dazu kommen konnte. Wir haben versucht, mit allen möglichen Akteuren zu reden, die im weitesten Sinn damit zu tun hatten, entweder auf so einer Ebene wie Frau Leichsenring oder dass sie betroffen waren oder aktiv wurden.

SL: Wir haben die Interviews ausgewertet und versucht, daraus Schlüsse zu ziehen. Die einzelnen Interviews sind darüber hinaus aber sehr reichhaltig und bieten Einblicke in die jeweilige Wahrnehmung der Zeit. Gerade aus den Anekdoten kann man die damalige Stimmung ablesen. Das ist viel umfangreicher als das, was wir in unserer Analyse zusammengestellt haben. Deshalb finden wir es wichtig, dass man die Original-Interviews einsehen kann.

DG: Noch nicht online ist unsere Zeitungsrecherche. Wir haben für den Zeitraum 1989 bis 1991, teilweise noch bis in das Jahr 1992 hinein, vier Zeitungen ausgewertet, die Märkische Volksstimme und den Neuen Tag und dann deren Nachfolger Märkische Allgemeine und Märkische Oderzeitung.

SL: Für das Erscheinungsgebiet dieser Zeitungen, also Nord-, West- und Ost-Brandenburg, haben wir nach allem gesucht, was zum Thema Pogrome, rassistische Stimmungen oder Bewertung von Neonazis, Neonazi-Organisierung erschienen war. Wir haben die Microfiche-Ausgaben der Zeitungen durchgesehen, die Artikel verschlagwortet und exzerpiert. Perspektivisch wollen wir auch dieses Archiv zugänglich machen. Dafür sind aber noch ein paar technische und rechtliche Fragen zu klären.

Wie seid ihr denn zu so einem Geschichts-Projekt gekommen?

SL: Inspiriert haben uns die Leute aus Hoyerswerda von pogrom91. Sie waren gewissermaßen Ideengeber. Zu dem Zeitpunkt, als wir mit dem Projekt begonnen haben, fing die NPD-Kampagne mit Demonstrationen vor Asylbewerberheimen oder möglichen Asylbewerberheimen an, in Mecklenburg-Vorpommern, dieses Jahr auch in Brandenburg, zuletzt Hellersdorf. Wir haben uns gefragt, was die Ausgangsbedingungen für eine Resonanz in der Bevölkerung sind, was zum Beispiel eine ausländerfeindliche Stimmung ermöglicht.

DG: Wir haben auch festgestellt, dass ein Teil von uns wenig über die Zeit Anfang der 90er weiß, weil er zu jung dafür ist. Andere konnten sich nach der Zeit nicht mehr an alles genau erinnern. Das überlagert sich. Deshalb war es für uns interessant, sich die Ereignisse zu vergegenwärtigen, einerseits durch die Interviews mit Zeitzeugen und andererseits durch die Zeitungsrecherchen.

SL: Am Anfang dachten wir noch so: Wir machen ein paar Interviews und können dann sagen, wie es „wirklich“ war. Davon sind wir sehr schnell weggekommen, weil wir gemerkt haben, dass wir überhaupt erstmal anfangen müssen, die Situation damals zu begreifen. Und das heißt nicht, dass wir als Gruppe das verstehen, sondern dass es eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber geben müsste. Die hat es noch nie gegeben. Bei den Gesprächen hatten wir das Gefühl, die 20 Jahre sind gerade genug zeitlicher Abstand, um wenigstens anzufangen nachzudenken. Damals gingen die Veränderungen so schnell und waren so existenziell, dass man keine Möglichkeiten hatte, darüber zu reflektieren. Jetzt kann man anfangen über die 90er Jahre zu reden und auch persönlich zu überlegen, warum habe ich mich so verhalten, was waren meine Einflüsse... Gleichzeitig haben wir gemerkt, dass viel verschütt ist, weil die Ereignisse 1989/90 und danach in einem unglaublichen Tempo abliefen. Man muss sich vorstellen, in welcher Geschwindigkeit da der neue deutsche Staat geschaffen wurde.

Wir wollen mit dem Projekt eine Perspektive stärken, die aus unserer Sicht etwas untergeht. Man ist heute schnell dabei zu sagen, dass es in den 90ern schlimm war, aber inzwischen alles viel besser ist. Das ist auch ein logischer Schluss – die Arbeit der Zivilgesellschaft in den letzten 20 Jahren muss ja irgendwas gebracht haben. Aber das wollen wir hinterfragen: Wie war denn die Situation damals? Kann man von besser und schlechter sprechen? Was sind die Veränderungen? Wir finden es dabei gar nicht so wichtig, was wir uns denken. Interessanter wäre, wenn mehr Leute darüber nachdenken, was für eine Zeit das war, wie die Situation zustande kam, was die Bedingungen waren.

Ihr habt euch aber natürlich auch selber Gedanken gemacht. Wie ist denn eure Einschätzung? Gibt es eine Antwort auf die Frage, wie das alles zustande kam?

SL: Ich möchte darauf erstmal gar keine Antwort geben, weil die wesentliche Erkenntnis aus dem Projekt für uns ist, dass wir zum einen einen breiten Diskurs und zum anderen einen offeneren Diskurs brauchen. Wir, das heißt nicht nur wir als Gruppe, sondern Leute, die die Zeit erlebt haben, fangen gerade noch einmal damit an, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Daneben haben wir aber auch schon seit Jahren Spezialdiskurse von Sozialwissenschaftlern, Journalisten oder linken Aktivisten, die alle ihre These und ihr Erklärungsmodell haben, die DDR, die Töpfchen im Kindergarten oder Deutschland an sich. Jede These ist für sich so besprochen, durchgekämpft und verteidigt, als wäre sie die einzig richtige. Es ist auch eine sehr emotional geführte Debatte.

Es gab und gibt darin auch einen Ost-West-Konflikt. Zugespitzt gesagt, da die Zivilgesellschafts- und Polit-Profis, die dem Osten Demokratie erklären, und dort spezifische Identitäten und die Erfahrung von Deligitimation. Ich glaube, viele Leute nehmen das als „Minenfeld“ wahr. Uns ist in den Interviews aufgefallen, dass die Leute, die anfangen, darüber zu reden, was passiert ist, sehr vorsichtig sind mit der Wiedergabe von Einschätzungen, Vermutungen, Gefühlen und Thesen, warum es dazu gekommen ist. Einerseits ist völlig klar: Wenn man über die Pogrome reden will, muss man auch über die wirtschaftlichen, sozialen, politischen Veränderungen und ihre Wirkungen reden, also über diese „Wendewirren“, die Brüche in allen Lebensbereichen mit ihren zum Teil brutalen Folgen. Andererseits ist nicht nur bei uns das Gefühl da, dass einem dann Vorwürfe gemacht würden, dass man die DDR verteidigen würde oder alles kleinredet oder Nazis in Schutz nimmt oder auch ein Rassist wäre oder oder. Da spielen jede Menge Reflexe, Vorurteile und Verteidigungshaltungen mit hinein.

Vielleicht klingt das hier auch etwas identitär. Aber für uns geht es um eine Auseinandersetzung, um eine offene Diskussion, darum sich zu emanzipieren und selbst einen Umgang zu finden. Natürlich kann an allen Thesen etwas dran sein. Natürlich hatte es etwas mit der DDR-Gesellschaft zu tun, dass es rassistische Gewalt war, aber genauso hatte es was mit der „Integrationssituation“ der DDR in die BRD zu tun. Uns geht es darum, zu verstehen und vielleicht eine weitere Debatte anzustoßen. Wir müssen anfangen, darüber zu reden, was damals passiert ist, nicht nur über die Pogrome, sondern über alles.

Daran hängen dann auch Fragen der eigenen politischen Sozialisation: Warum haben wir eine unabhängige, nicht hierarchische Struktur wie das DJB aufgebaut, warum sind wir nicht in einen großen Verband oder eine Partei eingetreten? Warum haben wir uns damals dafür entschieden, Jugendkulturarbeit zu machen? Was waren die Einflüsse, was waren die Referenzpunkte? Man lernt daraus auch für heute. Die Auseinandersetzungen, die vor uns liegen, um Neonazis und Demokratie zum Beispiel, brauchen das Verständnis davon, was damals passiert ist. Vielleicht kann man sich so auch von Perspektiven lösen, in die man so hineingewachsen ist.

Macht ihr das Projekt weiter?

DG: Wir haben schon überlegt, das Projekt auszubauen, zum Beispiel noch mehr Interviews zu führen. Die „Datenbasis“ ist natürlich noch erweiterbar. Ich glaube, dass es schon ein Schritt ist, überhaupt das Material zu sammeln und zur Verfügung zu stellen für alle, die sich damit beschäftigen wollen und darauf für ihre Fragestellungen zugreifen wollen. Es gibt die Option, daraus andere Projekte zu entwickeln. Derzeit diskutieren wir zum Beispiel, mehr Video-Interviews zu führen. Aus dem, was man in der Arbeit erfährt, können immer wieder neue Ideen entstehen. In den Interviews haben wir bemerkt und auch die Interviewten selbst festgestellt, dass sie noch gar nicht so viel über das Thema nachgedacht haben. Wenn man jetzt mit denselben Personen nochmal Interviews machen würde, würde man sicher noch weitere Antworten bekommen.