Interview mit Martin Dexheimer
Interviewerin: Als du von Hoyerswerda und Rostock gehört hast, was hast du damals gedacht?
Martin Dexheimer: Ich war total erschüttert, als ich die Bilder davon im Fernsehen gesehen hatte. Vor allem, wie die in Rostock Feuer legten und die Leute darumgestanden haben. Das war heftig. Und dann die Bilder von dem Fernsehteam, das mit den Vietnamesen in dem Haus drin war. Das hat man sich in so einer krassen Form nicht vorstellen können.
Interviewerin: Hattest du so etwas auch von anderen Städten gehört?
Martin Dexheimer: Vor 20 Jahren waren das ja oft so Geschichten, die passiert sind. Hier in Bernau wurde an der Tankstelle ein Mensch angezündet, ich glaube ein Obdachloser oder Alkoholiker. Und beim indischen Restaurant, über dem ich mal gewohnt habe, wurde die Scheibe eingeworfen. Der Jugendklub „Dosto“ wurde zu bestimmten Daten immer wieder angegriffen, zum Beispiel am 20. April. Da kamen ab und an mal Leute und wollten stänkern. 1992, das ist schon eine ganze Weile her. Es war nicht wirklich vorstellbar, dass Leute so etwas machen können, als man hörte, was da losgegangen war.
Interviewerin: Waren das Ausmaße wie in Rostock hier in der Umgebung, oder eher nicht? Auch in Bernau wurde jemand angezündet.
Martin Dexheimer: Es gab vor 20 Jahren auch in Bernau eine Zeit, da die rechte Szene hier aktiver war. Ich kann mich da besonders an Konflikte mit Russlanddeutschen in Bernau-Süd erinnern. Eine Weile lang gab es dort heftige Konflikte zwischen Nazis und den Russlanddeutschen. Zwei Wochen später war auf dem Parkplatz in Süd eine regelrechte Schlacht. Dabei standen dann ein oder zwei Streifenwagen herum, also wirklich wenig, obwohl bekannt war, dass es dort Ärger geben würde. So genau kann ich mich nicht mehr erinnern, was in welcher Reihenfolge passierte, es kann sein, dass das in anderer Abfolge passierte.
Interviewerin: Stand dabei eine Person im Mittelpunkt, oder war das ein Konflikt zwischen Nazis und Russlanddeutschen?
Martin Dexheimer: Ja, ein riesiger Konflikt. Es waren bestimmt 60, 80, 100 Leute beteiligt. Ursprünglich soll es wohl um ein Mädchen gegangen sein, was von einem Russlanddeutschen "angemacht" worden sein sollte.
Interviewerin: Das hat sich dann von Mal zu Mal gesteigert?
Martin Dexheimer: Richtig.
Interviewerin: Warst du selbst dabei, oder hast du das in der Zeitung gelesen? Über dem indischen Restaurant hattest du ja gewohnt.
Martin Dexheimer: Ich habe die kaputte Scheibe gesehen, und da wohnten ja noch mehr Leute damals in diesem Haus. Eine Person hatte das direkt gesehen, und die war dann Zeuge. Ich glaube, wenn ich mich jetzt richtig erinnere... Ja klar, der Zeuge hat da mal gewohnt und hatte das gesehen. Das war aber auf alle Fälle später. Ich denke 1994, vielleicht war es auch zwischen '96 und '98. Die Sache mit den Russlanddeutschen war davor. Wir als „Dosto“ haben damals mit der Caritas zusammen ein paar Projekte gemacht, bei denen es unter anderem auch um Russlanddeutsche ging. Auch wenn die Zusammenarbeit anfangs ein komisches Gefühl brachte, hat das etwas gebracht für die Leute. Die Russlanddeutschen konnten einfach mal entspannt mit jungen Leuten ins Gespräch kommen und irgendwo sein. Ich glaube, das hat dem „Dosto“ beziehungsweise dem „biF“ auch etwas gebracht, also mit der Caritas zusammen zu arbeiten.
Interviewerin: Warum dieses merkwürdige Gefühl?
Martin Dexheimer: Bei diesen Russlanddeutschen hat man vermutet oder mitunter auch die Erfahrungen gemacht, dass die etwas nationalistisch eingestellt sein könnten. Aber es war natürlich nicht so. Es stellt sich halt immer die Frage, ob man überhaupt Erfahrungen oder Informationen darüber hat, wie es den Leuten dort ging. Sonst kann man auch nicht verstehen, warum sie zurückkommen wollten nach Deutschland. Was heißt zurückkommen wollten, naja.
Interviewerin: Hast du von den Aktionen, die damals liefen, erfahren, weil du mit denen zusammen gearbeitet hast, oder weil dir die Nachbarn oder die Leute hier aus Bernau Bescheid gesagt haben? Wie war da der Informationsfluss? Wie wurde das weitergegeben?
Martin Dexheimer: Das war ein Gespräch – ich kann mich jetzt nicht genau erinnern, ob eine befreundete WG zu dem Zeitpunkt noch in dem Block wohnte, von wo aus man einen weiten Ausblick hatte und vieles mitbekommen hat. Die sind mal gucken gegangen, was da los ist. Aber auch so, das alles wusste man einfach. Ich bin keiner von den Schaulustigen.
Interviewerin: Wie hat die Stadt darauf reagiert, also haben die was getan, wenn die Polizei nur mit einem Auto daneben steht? Oder wurde das hinterher irgendwie ausgewertet, diese Übergriffe? Also zum Beispiel der in Bernau-Süd?
Martin Dexheimer: Daran kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern. Man hatte das Gefühl, dass die Öffentlichkeit überfordert war mit der Geschichte. Es hat sicher auch was damit zu tun, dass die Russlanddeutschen geballt in Häuser nach Süd gesteckt wurden – ohne denen dafür die Schuld geben zu wollen – in die billigsten Wohnungen. Mein Gefühl aus der Zusammenarbeit mit der Caritas war, dass sich niemand so richtig darauf eingestellt hatte, dass die Russlanddeutschen jetzt hier wohnen, auch wenn sie eine Weile in einem Aufnahmelager untergebracht waren und dort die deutsche Sprache lernen konnten. Ich kann mich erinnern, dass es damals Ideen für zweisprachige Schilder in bestimmten Institutionen gab, auch bei mir. Das bedeutet nicht, dass man nicht wollte, dass die Russlanddeutschen deutsch lernen, sondern man hätte damit der Realität besser Rechnung getragen, dass es viele Menschen mit anderer Muttersprache gab. Ich glaube, auch heute kann man noch sagen, dass es nicht gut ist, wenn man alle in ein Viertel steckt, zum Beispiel bei Asylbewerbern. Das hat nichts mit den Leuten zu tun, aber wenn man so viele verschiedene Menschen aus verschiedenen Gegenden der Welt so eng zusammensteckt, kommt es einfach schnell zu Konflikten. Ob untereinander oder auch von Seiten einheimischer Familien oder eingeborener Familien. Das kann Sprengstoff sein.
Interviewerin: Wenn du von der Überforderung der Öffentlichkeit sprichst: Kam denn darüber etwas in der Presse, oder wurde das eher unter den Tisch gekehrt? Und wie war der kommunalpolitische Umgang damit?
Martin Dexheimer: Also ich stell mir gerade die Frage, ob das öffentlich gemacht wurde. Also bei einem Konflikt war ich dabei, da gab es, glaube, ich keine Berichterstattung. Da hat man auch nicht selber darauf geachtet, sich in der Presse zu informieren, aber da gab es nichts drüber zu lesen. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es schon zu dieser Geschichte mit den Russlanddeutschen und den Nazis einen Presseartikel, aber irgendwie klein und ausschließlich informativ, ohne kritisches Hinterfragen der Ursachen. Daran kann ich mich nicht erinnern. Und ob die Kommunalpolitik darauf reagiert hat – na, ich glaube es stand dann damit im Zusammenhang, dass es auch Streetworker gab. Es gab zuerst auch sogenannte „akzeptierende Sozialarbeit“ mit Rechten. Später dann eben auch, wenn es Muttersprachler waren, Streetwork mit Russischsprachigen. Ich denke, dass es da einen Zusammenhang gab. Auf alle Fälle mit der Existenz von Streetwork – das war damals möglicherweise schon eine Reaktion der Öffentlichkeit. Genau weiß ich es nicht, aber das kann man rauskriegen. Wir hatten damals auf jeden Fall die Meinung unter den Leuten, die Jugendsozialarbeit gemacht haben: Die Rechten dürfen keinen Club kriegen, aber es ist ok, wenn man mit denen arbeitet. Darum Streetwork, weil man ja damals die Beispiele kannte, zum Beispiel aus Eberswalde. Und in Schwedt gab es das auch, also dass die Rechten einen Club hatten, in dem sie als Basis die akzeptierende Arbeit nutzten. Wie auch in Eberswalde. Das war durch die Betreiber nicht beherrschbar. Zwar waren das oft Sozialarbeiter, die anfänglich aus alternativen oder linken Zusammenhängen kamen, welche dann meinten: „Wir probieren jetzt mal, mit denen zu arbeiten.“ Aber gleichzeitig war das schon die allgemeine Haltung und Erfahrung: „Eigentlich ist das nicht zu beherrschen, du merkst nicht, ob du da nur ausgenutzt wirst.“ Wir waren ja damals als Jugendtreff „Dosto“ auch in dem „AGAG“-Programm drin, ich glaube als eine der Einzigen, denen die sogenannte Arbeit mit linksorientierten Jugendlichen finanziert wurde. Sonst war das ja eigentlich alles Arbeit mit Rechten. Ich kann mich erinnern, dass die Sozialarbeiter alle top waren, die da zu den „AGAG“-Treffen kamen. Aus meinem Bauchgefühl würde ich sagen, dass es Leute mit mir ähnlichen Gedanken und Meinungen waren. Ich denke, das war eine Reaktion des Bundes, dieses „Aktionsprogramm gegen Gewalt und Rassismus“ aufzulegen. Der Ansatz war aber eher die Arbeit mit rechten Jugendlichen und nicht die Förderung der Arbeit von Leuten, die antifaschistisch oder antirassistisch arbeiten. Vielleicht war es ein Zufall, dass wir gefördert wurden. Auch wegen der Situation des „Dosto“ damals sind wir in die Förderung gekommen, glaube ich. In Bernau und dem damals noch existenten Landkreis Bernau gab es eine CDU/SPD-Koalition, und da lag halt die Förderung eines FDJ-Büros nicht genehm. Deshalb wurde uns die Zustimmung zu einer Förderung verweigert, sowohl lokal wie auch bezüglich der Landesmittel. Obwohl es nur um 5000 DM ging für ein ganzes Jahr. Damals gab es die Information, dass wir der Koalition nicht genehm sind und deshalb keine Zustimmung bekamen, weil sie auch nach Ablauf des Jahres sonst noch weitere Förderung übernehmen müssten. Da war dann sogar ein Brandenburger Staatssekretär mal im „Dosto“. Der hörte sich unsere Probleme an, war echt total fit, und irgendwie haben die uns dann gefördert und irgendwie hat sich dann die Geschichte „AGAG“ ergeben, anfänglich vom DJB beantragt. So kamen wir in das „AGAG“-Programm rein und hatten dadurch jahrelang eine gute Förderung. Ich glaube, die Förderer fanden das auch gut, weil unser Ansatz immer mehr oder weniger der war, dass die jungen Leute weitestgehend selbstbestimmt Jugendarbeit machten, anders als heutzutage also.
Interviewerin: Du sagst, dass sich diese Übergriffe gesteigert haben. Wurden das dann immer noch mehr Leute, die sich mit den Nazis geschlagen haben? Dann ist noch die Frage, wie die Leute, die da in Süd gewohnt haben, reagierten.
Martin Dexheimer: Jetzt kann ich mich erinnern, ja! Na eine WG in Süd, die hat ein Transparent vom Dach des Neubaus gehangen, „Stoppt Rassismus“ oder so etwas, ich weiß nicht mehr genau, da müsstet ihr nachfragen. Die WoBau hat damals immer gesagt, dass die es abhängen sollen. Eine Weile wurde das dann durchgehalten, bis sie es abnehmen mussten. Ich kann nicht mehr ganz genau sagen, wie die Öffentlichkeit auf die Übergriffe reagiert hat. Auf alle Fälle war man in der Jugendarbeiterszene sehr beunruhigt. Wir hatten auch ein bisschen Bauchschmerzen und Zweifel, als die Streetworker damals mit ihrer Arbeit angefangen haben. Die Leute waren allgemein eher so drauf, dass die das alles nicht wahrhaben wollten. Die fanden das natürlich auch nicht gut, dass das Transpi da hing, weil es ja irgendwie Selbstanklage war. Aber ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.
Interviewerin: Das war es dann insgesamt in Bernau-Süd?
Martin Dexheimer: Soweit ich mich erinnern kann, ja. Es kann auch sein, dass Leute sich dazu geäußert haben. Ich weiß nicht, ob die PDS sich geäußert hat oder andere Leute, die da wohnen. Keine Ahnung, kann schon sein. Aber meine Erinnerung ist – die muss nicht repräsentativ sein – dass das schon ne Weile gedauert hat, bis eben Vereine und die Öffentlichkeit darauf reagiert haben, dass Russlanddeutsche in so hoher Zahl da waren. Dazu kamen noch die Kontingentflüchtlinge, russische Juden, die ja auch aus Russland kamen. Die waren aber schon immer anders, die hatten andere Strukturen sozusagen - und hatten auch andere Fördermöglichkeiten. Die waren da nicht untergebracht. Also ich kann mich nur erinnern, dass in Basdorf und Klosterfelde – auf jeden Fall in Basdorf/ Schönerlinde war das Auffanglager für die Kontingentflüchtlinge. Wo das Aussiedlerheim war – war das in Klosterfelde? Ich hätte jetzt gedacht, dass es ebenfalls in Basdorf war, auf diesem ehemaligen Gelände der Polizei. Ich weiß es nicht genau... Mein Gott, das wusste ich schon mal. Da könnte man aber die Caritas nochmal fragen. Die Caritas war damals für die Arbeit mit den Spätaussiedlern zuständig. Ach so, an eins erinnere ich mich auch noch: Wir hatten damals direkt bei Projekten von uns Konflikte. Ich glaube, das war das zweite Pfingstcamptreffen, was wir organisiert haben. Da waren wir auf einem Zeltplatz am Süßen Winkel, 1991, eine bunte Mischung von jungen Familien mit Kindern bis zu Jugendlichen. Da war zu Pfingsten auch eine größere Gruppe Nazis auf dem Zeltplatz, die sind an einem Abend anmarschiert gekommen. Ich kann mich erinnern, dass ich so einen Anflug von heldenhaftem Mut hatte und mich denen entgegenstellte. Die haben mich einfach beiseitegeschoben. Sie haben im Prinzip dann unser Lager annektiert und provoziert. Wir sind ruhig geblieben. Die Mütter mit Kindern hatten Angst – logisch. Ich saß auch vor dem Zelt, das war eine total beschissene Situation. Kam da die Polizei? Nein. Oh Gott... Jedenfalls hat sich das irgendwann gelöst, und die sind abgehauen, aber das war schon eine ziemlich krasse Situation. Haben wir dann abgebaut? Ich weiss es gar nicht, auf alle Fälle haben wir die Mütter mit Kindern dann nach Hause gebracht und nach Hause geschickt. Das war uns zu heiß, weil wir nicht wussten, ob noch mal etwas kommt. Das war '91 oder '92. Das war wahrscheinlich schon das Territorium der Nazis, also irgendwelche Zeltplätze in der Nähe von Eberswalde. Bernau war da eigentlich ein bisschen anders. Ich glaube – laut meiner Erinnerung – gab es durch das, was da dann losging, auch ein paar Leute, die ursprünglich mal bei uns waren und sich dann in die Richtung der Nazis entwickelt haben. Das ist nie so richtig klar gewesen, jedenfalls ein bisschen doof. Es gab damals Gerüchte oder Erzählungen von Wehrsportgruppen hier in der Gegend. Ich glaube, vorrangig mit Jugendlichen, deren Eltern bei der Stasi waren. Also als Abgrenzung von ihren Eltern. Da zog es auch einige hin, die halt immer schon eine Affinität zu Kampfsport hatten, Jungs halt. Das gab es zwar, aber bis zu den Geschichten damals, hatte man das Gefühl, dass Bernau links ist. Es gab ja das „Gurkenwasser“, es gab uns und noch verschiedene kleine linke Gruppierungen. Aber im Untergrund gab es dann doch andere – neonazistische – Entwicklungen. Oder eben außerhalb des Gesichtsfeldes. Da hatte man etwas nicht mitbekommen, wie sich dann zeigte.
Interviewerin: Und hattest du das Gefühl, dass mit der Häufigkeit der Übergriffe die Polizei dann auch angefangen hat zu reagieren? Es ist ja noch nicht so lange her, aber als da jemand diesen Böller ins „Dosto“ geworfen hat, da kam gleich so eine Supersondereinheit, die da alles aufgenommen hat. Aber wie war denn das da, wurde damals so etwas auch angelegt?
Martin Dexheimer: Ich habe nur noch die Erinnerung, dass es dann da in Süd angestiegen ist. Ich glaube die Schlacht mit den vielen Leuten, das war ein Höhepunkt, und trotzdem war der Eindruck damals, dass das sicher weitergegangen ist: „Der Russe hat meine Freundin angemacht, und der hat den angemacht!“, und dann holen die ihre Freunde, und die ihre Freunde. Also damals war das Gefühl schon da, dass die Leute nicht in der Lage waren, darauf zu reagieren.