Interview mit Matthias Dörr
Interviewerin: Es geht um die Zeit Anfang der 90er, also etwa von 1990 bis 1992, und sicherlich noch darüber hinaus. Was hast du zu dieser Zeit gemacht?
Matthias Dörr: Ich bin seit 1982 in Frankfurt (Oder). Heimisch geworden bin ich erst 1984, als ich aus dem Internat raus war und Anschluss gefunden habe an Leute, die in der Jungen Gemeinde waren. Aus diesem Kreis heraus haben wir dann eine kleine Umweltgruppe gegründet. So habe ich dann die Wende erlebt und war euphorisch bis zu einem bestimmten Tag im November, an dem ich dachte, dass nicht nur die Regierung gestürzt wird, sondern dass daraus ein demokratischer, freier Sozialismus entstehen kann. Als der Anschluss kam und wir vom Westen geschluckt wurden, war das frustrierend und deprimierend. Ich dachte: „Was wollen die eigentlich von uns? Die sollen ihre Regierung stürzen, und dann können wir uns meinetwegen vereinigen. Vorher aber nicht.“ Ich bin dann Hausbesetzer geworden, weil ich dachte: „Na gut, wir haben die Regierung nicht gestürzt, dann machen wir das eben im Kleinen.“ Es gab eine Fraktion – vielleicht ist das auch zu platt gesagt – die eher Kulturpolitik machen wollte, zu der ich eher gehörte. Und dann gab es eine Fraktion – das ist auch so ein Klischee – die eine autonome Insel schaffen wollte, die eher körperlich-militant drauf waren. Ich kannte so etwas nicht, dass man rumzieht und irgendwelche Leute verprügelt. Ich kannte auch nicht, dass man selber verprügelt wurde. Ich kannte, dass da irgendwelche Polizisten waren und irgendwelche Stasi-Leute, die uns überwachen. Aber dann kamen auch Leute aus der Bevölkerung, die einfach rumzogen, um Kommunisten zu prügeln. Obwohl ich gar kein Kommunist war. Das war so etwas wie ein Eigenschutz. Ich hatte den Eindruck, die Polizei reagiert überhaupt nicht. Das war so Ende ‘89, Anfang ‘90.
Interviewerin: Und als du dann von den Ereignissen gehört hast, die in Rostock-Lichtenhagen und in Hoyerswerder passiert sind, was hast du gedacht? Wie lässt sich das beschreiben?
Matthias Dörr: Das ist ganz schön schwierig zu beschreiben, weil ich eben auch ein schwieriger Zeitzeuge bin. An vieles kann ich mich nicht erinnern. Ich kann mich natürlich an Rostock und Hoyerswerder und Solingen erinnern. Ich war entsetzt, es war irgendwie so ein Ohnmachtsgefühl. Ich bin aber auch nicht auf die Idee gekommen, jetzt müssen wir uns zusammentun, so mit 50 Leuten, und da hinfahren und die da schützen. Es war schon so ein Ohnmachtsgefühl. Was kann ich als kleiner Molly jetzt machen? Das war eher Alltag, dass Übergriffe stattfanden. Noch vor der Hausbesetzung habe ich in der Fürstenberger Straße gewohnt. Das ist gleich in der Nähe von dem Haus, dort, wo ich damals bei der Besetzung mitgemacht habe. Wir hatten dann, weil wir das schön fanden, Transparente aus dem Fenster gehangen. Das „Wort zum Tag“, um die Leute ein bisschen zu provozieren und zum Nachdenken anzuregen. Dann haben wir auf einem Parkplatz in der Fürstenberger Straße gesessen und haben ein bisschen Bier ausgeschenkt, ein bisschen Straßentheater gemacht und über Gott und die Welt geredet. Zum Beispiel, wie bekloppt die FDJ war, und wie toll Ton Steine Scherben waren. Also irgendwie versucht, möglichst öffentlich mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die bei uns im Viertel wohnten. Daraus entstand dann, dass abends Mitbewohner von uns aus der Fürstenberger Straße von irgendwelchen Leuten zusammengeschlagen wurden. Wir haben probiert, uns gegenseitig zu schützen. Der eine hatte dann einen Knüppel mit einer Eisenkugel bei sich im Schrank zu liegen. Der Tag war immer so, dass wir ganz normal arbeiten waren und abends bis 1 oder 2 Uhr saßen, gegessen haben und uns unterhielten. Über Ideen und Wünsche, wie man mit der Wende umgeht, weil das war ja noch nicht so die Wende. Wir waren ja in so einem total rasanten politischen Prozess. Über Literatur haben wir uns auch unterhalten. Auf einmal wurden nachts Türen eingetreten. Wir sind dann runtergestürzt und haben Krach gemacht. Wir wollten uns nicht mit denjenigen prügeln, weil wir vermuteten, dass die stärker sind. Anfangs sind die auch noch abgehauen. Dann gab es aber auch Nächte, in denen wir dann geflüchtet sind. Ich kann mich noch erinnern, dass wir einmal zwei bis drei Stunden auf einem Schuppendach gelegen haben. Wir merkten, dass die Lage immer bedrohlicher wird. Daraufhin haben wir gedacht: „Wenn wir jetzt immer überfallen werden, warum ziehen wir dann nicht in ein Haus zusammen, das wir dann einfach schon zusammen wohnen?“ Daraus ist dann das erste Haus, das wir besetzt haben, entstanden. In der Fürstenberger Straße, Ecke Dresdner Straße. Wir haben eher probiert, uns dem Alltag zu erwehren. Wir haben gedacht, dass das eigentlich auch Spaß macht, dass das eine Zeit ist, in der wir zusammen etwas machen können. Wir hatten auch den Eindruck, dass die Polizei nicht wusste, was sie machen soll, dass sie nicht reagiert haben. Also bei der Hausbesetzung haben sie wenig reagiert, und bei den nächtlichen Überfällen haben sie auch nicht reagiert.
Interviewerin: Das heißt Hausbesetzung als Selbstschutz?
Matthias Dörr: Einerseits. Aber nicht nur. Denn andererseits war es auch ein Stück Utopie, selbst etwas gestalten zu können. Also nicht bloß Selbstschutz. Zu DDR-Zeiten gab es in West-Berlin einen alternativen linken Radiosender - "Radio 100". Den habe ich oft gehört. Da gab es auch Berichte von Hausbesetzungen. Außerdem war mein Cousin damals Sympathisant und Aktivist in Hamburg, um die Hafenstraße herum. Er hat da nicht gewohnt, aber eine Besetzung mitgemacht. Sodass ich dann dachte: „Mensch, irgendwann müsstest du auch mal in einem besetzten Haus wohnen, das ist lustig und schön!“ Es war dann aber nicht so lustig und nicht so schön. Tja, so ist das entstanden.
Interviewerin: Wie würdest du die Leute beschreiben, die euch angegriffen haben? Du sagst, dass Übergriffe an der Tagesordnung waren, was waren das für Leute?
Matthias Dörr: Ich habe die nicht gesehen. Ich kann dir jetzt nicht beschreiben, wie das war. Aber du meinst, wo ich die einordnen würde?
Interviewerin: Genau.
Matthias Dörr: Das waren absolute Suffnazis. Ähnlich wie wir dachten, wir wollen jetzt Freiheit, haben die gedacht, jetzt kommen diese blöden linken Leute und die Polizei tut nichts – die werden wir jetzt selbst persönlich überfallen und für Ordnung sorgen. Eines nachts – in dieser Zeit habe ich teilweise in einem besetzten Haus gewohnt und teilweise hatte ich eben noch eine kleine Wohnung – haben die da geklopft und gesagt, sie wollten mal gucken, wie so ein Kommunist oder Linker wohnt. Dann haben sie mit mir eine Stunde über Politik diskutiert und sind wieder losgezogen. Dabei war dieser eine Typ, Kai Donner. Das war so ein bekannter Nazi. Die Hausbesetzung in der Fürstenberger Straße ist dann irgendwann zu Ende gegangen. Ich weiß gar nicht richtig, warum. Vielleicht, weil uns das Haus zu klein war, oder zu baufällig. Dann haben wir eben das in der Fürstenberger Straße besetzt, in dem heute so ein Medizinhandel drin ist. Und das war dann auch eigentlich ziemlich schlimm. Dort gab es den Fussballverein, Vorwärts Frankfurt (Oder), die in der Oberliga waren. Und da begann, dass dort jeden Samstag irgendwelche Leute vorbeizogen, die da prügeln wollten. Die Gruppendynamik war damals so: in Frankfurt gab es einen Losch, der war Punk, körperlich sehr dominant, und der hat z.B. einfach die eigenen Leute zusammengeschlagen, weil sie es nicht so gemacht haben, wie er es wollte. Ich war entsetzt. Also da war Willi vierzehn, und Willi war dann irgendwie in einen Disput gekommen, und da hat er ihn zusammengeschlagen. Das war irgendwie so ein Ende von mir – wenn die eigenen Leute zusammengeschlagen werden. Das hat nichts mehr mit irgendwelchen Visionen zu tun, die ich damals hatte oder nicht. Also das war so ein Bruch, wo ich dachte: „Nein, mit den Leuten möchte ich nun nichts mehr zu tun haben.“ Oder dann gab es auch so einen Typen, Kai, im besetzten Haus, der hat einen bissigen Hund gehabt, der hat dann auch die eigenen Leute eingeschüchtert. Das ging dann irgendwann so weit, dass diese Übergriffe so massiv waren, dass unsere Fraktion, die eher Kultur und Politik machen wollte, dachte, wir brauchen einen Schutz – irgendwie müssen wir uns denen körperlich erwehren. Wir hatten überhaupt keine Ahnung, wie man so etwas macht. Wir hatten irgendwie im Kopf, wie man Politik macht, oder was man kulturell machen könnte – aber sich den Nazis erwehren, das konnten wir nicht, weil wir einfach keine Ahnung davon hatten. Und dann gab es eine Fraktion, das waren eher Punks. Mit denen haben wir dann zusammen Boxen trainiert. Daran ist es schon gescheitert. Die einen waren auch völlig rücksichtslos. Ich glaube, das ging auch so weit, die eigenen Leute zu bedrohen. Mit diesem Köter. Außerdem waren die auch immer irgendwie bewaffnet mit so einer Gaspistole. Ich war wirklich irgendwann so traumatisiert von diesem Viertel, dass ich dann nicht mehr da gewohnt hab. Ich habe das nicht mehr ausgehalten – diese ständigen Überfälle, diese Bedrohung in der eigenen Gruppe. Ich bin dann aus Altberesinchen weggezogen und habe dann erstmal am Karl-Ritter-Platz bei einem Kumpel gewohnt. Bei mir war es also so, dass ich mich dann verdrückt habe und merkte, mit dieser Gewalt überhaupt nicht klarzukommen. In der Zwischenzeit habe ich ein Seminar gemacht zur Entwicklungspolitik in Brasilien. Darin ging es immer um die Ausgegrenzten in der Gesellschaft, zum Beispiel diejenigen, die Land besetzt haben oder ähnliches. Ich hab daraufhin überlegt, wer jetzt in meiner Stadt eher die Ausgegrenzten sind. Und eine zeitlang habe ich ziemlich intensiv Leute im Asylbewerberheim besucht. Wir haben damals auch so eine Umtauschaktion gestartet – aber es kann auch sein, dass das schon nach '92 gewesen ist, so richtig weiß ich diese Zeitspanne nicht. Also ich fand es jedenfalls sehr gewalttätig, also mit Rostock, mit diesen ganzen Pogromen, die hier waren. Ich fühlte mich sehr ohnmächtig und merkte, dass in der Stadt eigentlich keiner auf diese Sachen reagiert hat. Mein Eindruck ist heute so. Ich weiß nicht ob der wirklich stimmt – dass die Stadt nichts gemacht hat. Die Polizei hat auf keinen Fall etwas gemacht. Es gab nur diesen Selbstschutz – aber auch völlig gegen die eigenen Leute, die mit dieser Gewalt nicht umgehen konnten. Die manchmal teilweise auch so bedroht wurden, dass in Neuberesinchen so ein Klima der totalen Angst entstanden ist. Und – aber das haben mir dann andere erzählt – dass es dann solche Aktionen gab, dass Nazis, die durch die Gegend gezogen sind, dass die verprügelt wurden, sodass sie sich nicht mehr in dem Stadtforum aufgehalten haben. Ich weiß jetzt nicht, ob das gut oder schlecht war – also dass es das einzige war, dass sie sich dagegen gewehrt haben. Es gab eine Aktion bei „Radio 100“. Früher gab es in der Linken im Westen ja solche Aktionen wie „Waffen für El Salvador – Guerilla“. Und dann gab es eben so einen Aufruf im Radio, den ich auch gehört habe, „Waffen für Frankfurt (Oder)“. Und ich war entsetzt, dass die eine richtige Adresse von einer Person angegeben haben, die es auch wirklich gab, und die da auch wohnte, und diese Waffen dann irgendwann auch dort angekommen sind. Zuerst diese Cachis, also Zwillen, und all so etwas. Dann sind diese Hassis, diese Dinger, die man sich über das Gesicht ziehen kann, angekommen. Alles an diese Adresse. Das war schon krass. Das war so weit gegangen, dass die Leute in Frankfurt keinen anderen Ausweg mehr gefunden haben, als so einen Aufruf zu starten. Die hatten ja auch alle kein Geld – und das kostete ja auch irgendwie Kohle, wenn man sich solche Sachen zulegen will. Das war aus einer reellen Situation heraus, die ich auch nachvollziehen kann. Dass das als Notwehr schon berechtigt war. Diese Aktion war schon öffentlich so das, was am weitesten ging. Weil die das eben im Radio ausgestrahlt haben.
Interviewerin: Du meintest, dass du eine Zeit lang viel Kontakt zum Asylsuchendenheim hattest. Gab es auch Übergriffe auf Asylsuchende in Frankfurt?
Matthias Dörr: Vorher, bevor die überhaupt eingezogen sind. Am Anfang waren sie im Kliestower Weg untergebracht, da gab es eine zeitlang mal ein Asylbewerberheim. Dann wurde das in Seefichten aufgebaut. Ich weiß nicht, ob da Sprüche drauf gesprüht waren, aber irgendwas gab es da. Dort gab es diese Befürchtung der Leute, die da in der Gegend wohnten: „Die klauen alle nur.“ Und da hat die Stadt wirklich auch reagiert. Herr Gehlsen war damals Sozialdezernent. Er hat Gesprächskreise mit den Anwohnern gemacht und probiert, die Befürchtungen ein bisschen zurückzuschrauben. Man kann die ja auch nicht völlig davon überzeugen, dass sie falsch liegen. Das kann man nur irgendwann, wenn sie zusammen wohnen.
Interviewerin: Und als die Asylsuchenden dann eingezogen sind, gab es dann Übergriffe, oder war es eher ruhig?
Matthias Dörr: Ob es Überfälle gab kann ich dir gar nicht sagen, das weiß ich nicht.
Interviewerin: Und von der Stimmung her in der Stadt gegenüber den Asylsuchenden?
Matthias Dörr: Die Stadt ist immer, auch heute, in weiten Kreisen einfach feindlich eingestellt. Bei mir auf Arbeit merke ich das deutlich. Da gibt es diese ganzen Stereotypen, die immer wieder aufgewärmt werden gegenüber Leuten, wie: „Die klauen nur.“ Meiner Kollegin wurde ein Auto geklaut. Also dass jemand sauer ist, dass das geklaut wird, das kann ich nachvollziehen, aber dass dann ganz massiv so etwas kommt wie: „Die Grenze muss dicht gemacht werden, die klauen alle.“ überhaupt nicht. Die kennen ja fast nie jemanden. Wenn sie mal in Polen sind, dann sind sie da um zu tanken, oder um auf den Markt zu gehen. Dann hört es schon auf. Die Leute, die in Polen ganz viel unterwegs sind, die Leute kennen, die teilweise ihre Freizeit da verleben, die werden eher belächelt. Ich habe den Eindruck, dass es im Wichernheim eigentlich immer relativ gesittet zugegangen war. Über die Umweltbibliothek habe ich Asylbewerber kennengelernt. Es gab auch Treffen im Asylbewerberheim, wo ich manchmal dachte: „Muss ich jetzt schweigen oder nicht?“ Zum Asylbewerberleistungsgesetz hatte zum Beispiel jemand gesagt, er braucht Geld um in den Puff zu gehen. Und dann habe ich zu ihm gesagt, dass ich das total bekloppt finde, wenn er in den Puff geht. Das sind schon verschiedene Vorstellungen über Frauen- und Männerbilder. Teilweise fand ich das auch immer unverständlich, wie sie gelebt haben. Ich war eine zeitlang öfter mal dort. Dann hatte ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre. auf diesem langen Korridor mit diesen ganzen Leuten auf einer Etage zu leben, mit diesem Zaun da. Ich bin wirklich froh gewesen, dass ich da nicht gelebt habe. Und ich habe gemerkt, dass das echt furchtbar ist. Dann gab es auch mal einen Protest von den Asylsuchenden gegen die Einführung von Kontoblätter. Da gab es eben nicht nur von uns Protest. Damals gab es die Möglichkeit für Kommunen, Bargeld an Asylbewerber auszuzahlen. Und das haben sie lange in Frankfurt gemacht, und dann wurden sie vom Land, damals unter Frau Hildebrand, ziemlich massiv unter Druck gesetzt, dass sie eben auch diese Kontoscheine bekommen, und da ist irgendwann die Stadt eben eingeknickt. Und es gab damals von den Abgeordneten, jedenfalls vom Neuen Forum, sehr lange Bemühungen, dass weiterhin immer Bargeld gezahlt wird. Da haben sie sich auch wirklich Mühe gegeben. Ich hatte den Eindruck, dass es wirklich um das Grundrecht ging, so etwas wie ein Bürgerrecht, dass die Asylbewerber Geld bekommen. Nicht bloß um das Ansinnen der Stadt, dass diese nach außen hin gut dasteht, was ja auch heute so ist, auch über die Jahrzehnte. Es gab eben den Anspruch, dass das Geld, was sie kriegen, in bar gezahlt wird. Das fand ich von der Qualität her viel, viel besser. Jedenfalls hatten die Asylbewerber auch die Annahme von diesen Coupons verweigert. Ich weiß gar nicht mehr wie lange das ging. Aber sie haben ja finanziell auch eine schwache Position. Sie sind ja angewiesen auf die Kohle. Wir von der Umweltbibliothek hatten auch dagegen protestiert. Irgendwann haben wir dann eben gemerkt, dass die Proteste nicht helfen, sodass wir dann Patenschaften probiert haben. Diese Patenschaften sahen so aus, dass Frankfurter mit den Asylbewerbern einkaufen gehen und ihnen das Geld auszahlen.
Interviewerin: Wie würdest du das Handeln der Szene oder der Gruppen, in denen du dich bewegt hast, heute bewerten?
Matthias Dörr: Nur an der Frage zu Neonazis und Neofaschismus?
Interviewerin: Das vielleicht in erster Linie, aber zu etwas anderem wäre sicher auch spannend. Also wie du das politisch einordnest.
Matthias Dörr: Schwierig, weil es damals diese Gruppen noch gar nicht gab. Es gab eher einen kulturellen Background, vor dem wir uns alle getroffen haben. Es gab damals beispielsweise im „Mikado“ immer irgendwelche Musikveranstaltungen, zu denen wir gegangen sind. Das war eben nicht so, dass es da Musik gab von einer Szene, sondern dass es mal Punk gab, dann gab es Heavy Metal, dann gab es einen Liedermacher. Alle aber sind zu allem hingegangen: „Ich geh da nicht hin, weil da tolle Punkmusik läuft, sondern ich geh da hin, um mich mit meinen Kumpels und Kumpelinen zu treffen – und nebenbei hören wir noch Musik.“ Das war ein ganz ganz bunter, total spannender Haufen. Das war nicht so fraktioniert. Heute würde ich sagen: „Da sind die vom Weltladen, da sind die vom Friedensnetz, da seid ihr, und weil ihr da seid, gehen wir da heute nicht hin, ich gehe dann nächste Woche wieder hin.“ Es war eben eine Szene, in der sich verschiedene Cliquen getroffen haben. Man hatte miteinander ganz guten Kontakt. Und viel später ist daraus erst entstanden, dass man Heavy Metal hört, man zu Heavy Metal geht. Und wenn man das nicht hört, geht man da nicht hin. Das war Anfang der 90er so eine Art Aufbruchstimmung: „Wir können dieses Land so gestalten, wie wir uns das vorstellen.“ So richtig neugierig – teilweise auch euphorisch – was da für Leute kommen. Richtig wissbegierig: „Wo kommst du her? Was machst du?“ Man fühlte sich auch nicht blöd, jemanden anzuquatschen oder voneinander zu erzählen. Dass das dann aufhörte, vielleicht '92,'93, hat mit der Frustration der Menschen zu tun, doch nichts erreicht zu haben. Deswegen brauche ich auch nicht wegen der Leute dort hingehen, ich gehe jetzt einfach wegen der Musik zu einer Veranstaltung. Wir in unserer Umweltbibliothek, wir haben eine Phase gehabt, das muss so '92 gewesen sein, da waren wir dann irgendwann eine richtige Selbsthilfegruppe. Die Leute waren nur depressiv drauf – das ist dann so richtig umgeschlagen von Euphorie zu Depression. Und es gab mindestens ein Jahr, in dem wir eine Gruppe waren, in dem wir aber keine Politik gemacht haben. Wir haben probiert irgendwie mit allem klarzukommen – das war eine Niederlage: „Man kann nichts bewegen, die machen sowieso da oben was sie wollen.“ Und: „Was können wir da als kleiner Mensch tun? Können wir überhaupt noch was tun? Haben wir überhaupt noch irgendwelche Ansprüche? Oder können wir, wenn wir Ansprüche haben, überhaupt noch etwas gestalten?“ Das war Ohnmacht! Wir können nichts mehr machen. Das war '92,'93, eine ganz finstere Zeit. Aus dieser Ohnmacht hat mich eine Reise nach Brasilien geholt. Ich habe festgestellt, dass es mir ganz gut geht und dass es Leute gibt, denen es viel viel schlechter geht, und dass die handeln, und dass die beispielsweise relativ erfolgreich Landbesetzungen machen, dass sie zum Beispiel als Netzwerk arbeiten, dass es Intellektuelle gibt, Rechtsanwälte, die gemeinsam mit den Leuten Land besetzt haben. Es gab dann so eine Zeit, wo wir schon gehandelt haben. Damals haben Leute aus Berlin eine Demonstration gemacht für offene Grenzen – das war ein Ansatz, den wir total komisch fanden. Also die Berliner wollen eine Demonstration machen, und ich fand, die könnten uns aktiv helfen, sodass wir hier vor Ort von denen lernen, wie man Strukturen aufbaut. Und das fand ich irgendwie komisch. Eine Demonstration – das ist kurzzeitig. Das ist in der Stadt zwar Thema, aber hilft nicht Strukturen aufzubauen. Wir haben dann irgendwann eine Fahrradtour gemacht, für offene Grenzen, von Zittau bis Frankfurt. In dieser Zeit, so '91,'90, gab es da regelmäßig Überfälle auf das „Mikado“. Da kamen dann drei, vier Autos vorbei und dann hieß es: „Die Nazis sind da“. Daraufhin sind dann die Leute alle raus und haben probiert, die Nazis abzuwehren. Ich habe vor diesen Leuten wirklich Angst gehabt, vor diesen Nazis. Ich habe mich nicht mit denen herumgeprügelt, ich habe mich eher verpisst. In der Herbert-Jensch-Straße, in der ich damals gewohnt habe, trieb sich auch regelmäßig so ein Mob herum. Den traf ich oft an, als ich von der Arbeit kam. Es war schon normal, dass ich vor denen eigentlich keine Angst mehr hatte, und dass ich hinter so einer Hausecke auch mal zehn, zwanzig Minuten gesessen und gewartet habe, bis die weitergezogen sind. Das war schon so Anfang der 90er Jahre. Und das war schon sehr prägend. In dieser Zeit, in der viele Leute im „Mikado“ waren, sind oft einfach Nazis vorbeigekommen und wollten das „Mikado“ überfallen. Dann wurde eben gesagt: „Jetzt sind wieder mal ein paar Nazis da!“ Dann sind alle raus. Ich weiß nicht, ob sie sich geprügelt haben, oder irgendwas. Ich bin dann einfach nicht rausgegangen, ich hatte wirklich davor Schiss. Höchstwahrscheinlich wäre mir da draußen gar nichts passiert, wenn da so zwanzig, dreißig Leute vor dem „Mikado“ stehen. Wie die Auseinandersetzungen da gelaufen sind, kann ich jetzt nicht sagen.
Interviewerin: Und wieso hat diese ganze Nazigewalt irgendwann abgenommen? Kannst du das einschätzen, oder wie würdest du das einschätzen?
Matthias Dörr: Erstmal gab es ja dann diese „Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt“, sodass massiv Anzeigen gemacht wurden. Außerdem war damals in der Staatsanwaltschaft jemand, der sehr willens war, diese Nazis auf jeden Fall in den Knast zu bringen. Frankfurt selbst hatte durch die Viadrina aber auch einfach brandenburg- und deutschlandweit Angst, einen Ruf zu verlieren. Mit dieser Angst, das Gesicht zu verlieren, wurde massiv auch gegengearbeitet. Initiativen aus Frankfurt haben einfach gesagt: „Wenn die Angst haben den guten Ruf zu verlieren, probieren wir einfach, einen Journalisten kennenzulernen.“ Zum Beispiel beim Tagesspiegel, der Herr Jansen, der hat ja massiv über Frankfurt geschrieben, oder auch eine Journalistin von der Frankfurter Rundschau, dass die natürlich massiv Angst hatten. Andererseits haben – ich weiß gar nicht wie man diese Gruppe nennt – die ehemaligen Hausbesetzer, dass die massiv Anti-Nazi-Arbeit gemacht haben. Sodass in Frankfurt ein massives Bedürfnis entstanden ist, die Nazis loszuwerden, nicht bloß bei Linken. Und dafür wurde einfach intensiv gearbeitet. Irgendwann wurde das dann auch der Polizei verklickert: „Das ist ein Feld, das ihr zu beackern habt.“ Und dass es irgendwann soweit gekommen ist, dass man einfach gleich die Polizei angerufen hat und die auch gehandelt haben. Und dass es mal von oben herab verordnet wurde:“ Jetzt habt ihr mal den Mund zu halten.“ Viele Nazis sind in den Knast gekommen, viele sind auch vermutlich Bürger geworden, die jetzt heimlich Nazis sind, aber körperlich wahrscheinlich nicht mehr prügeln, oder nur wenig. Dass es so etwas gab wie Repression und andererseits Öffentlichkeitsarbeit darüber, was hier passiert. Und dass kurioserweise Frankfurt den Ruf hat, eine linke Stadt zu sein. Obwohl ich das auch nicht so richtig nachvollziehen kann. Und dass die Leute, die aktiv gegen Nazis arbeiten, egal ob das jetzt ein Journalist ist, die Menschen aus der Initiative, die Leute aus irgendeiner Partei, miteinander einfach zusammenarbeiten, egal ob sie jetzt von da kommen oder nicht. Dass man die verschiedenen Möglichkeiten die man hat, einfach jeder auf seinem Terrain – also der Journalist schreibt in seiner Zeitung oder seinem Fernsehen, dass die zusammenarbeiten, dass das – ich weiß nicht wie gut das heute ist – aber dass das zeitweilig ganz gut war. Ich glaube aber auch nicht, dass Frankfurt da mehr Zivilcourage gezeigt hat.
Interviewerin: Das heißt im Prinzip, dass das Konzept der Antifaschisten auch irgendwo aufgegangen ist.
Matthias Dörr: Zeitweilig, man weiß ja nicht wie es in ein paar Jahren ist.
Interviewerin: Ich meine damals. Die Reaktion darauf scheint funktioniert zu haben.
Matthias Dörr: Es gab auch Dokumentationen von der Viadrina. Katja und Marcus waren Referenten für Antirassismus vom AstA oder vom StuPa, und die haben probiert, diesen Staatsanwalt zu interviewen, der dann auch tatsächlich gesagt hat: „Klar lass ich mich von euch interviewen.“ Oder als die Prozesse waren – dass dann viele Leute auch zum Gericht gegangen sind und zugeguckt haben, was passiert. Es gab ja auch so Aktionen von der Anti-Antifa gegenüber Kamil, dass die ihm nachts aufgelauert haben, und dass zu diesem Prozess dann viele Leute da waren. Und dass es aber auch viele verschiedene Ansätze gibt, was glaube ich viele Antifaschisten auch gar nicht verstehen; dass Christian Gehlsen immer mit so einem weißen Hemd bei den Nazidemonstrationen rumhing. Also obwohl es viele Gespräche gab, aber so inhaltlich ganz verschiedene Ansatzpunkte nicht so viel besprochen werden. Sodass das eigentlich noch ausbaufähig ist. Ich hatte nie gedacht, dass das jetzt so wird bei uns wie '33. Also diese Angst hatte ich nie gehabt. Ich habe es immer als sehr bedrohlich empfunden, und ich habe immer empfunden, dass sich das ins Nationalistische weiterentwickelt, diese Angst hatte ich. Aber ich hatte gedacht, wenn, dann bin ich nicht überzeugt, dass Geschichte sich genau so wiederholt. Es ist schon wichtig, Geschichte aufzuarbeiten und zu gucken oder Leute zu würdigen, die unter den Nazis damals wie heute gelitten haben oder leiden, das finde ich auch richtig. Aber ich hatte nie diese Einstellung – das war mir glaube ich ein bisschen zu flach – dass man gleichsetzt, dass das genau so wiederkommt. In einer anderen Form konnte ich mir das jedenfalls damals schon sehr gut vorstellen.