Interview mit P.
Interviewerin: „20 Jahre nach den Pogromen von Rostock und Hoyerswerda - wie war die Situation in anderen Städten?“ Das ist das Thema unserer Interviews. Wir wollen mit dir darüber reden, wie die Situation vor zwanzig Jahren hier in Frankfurt (Oder) war. Unsere erste Frage bezieht sich auch gleich auf Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen: Was hast du gedacht, als in den Medien über die Pogrome berichtet wurde? Kannst du dich daran noch erinnern?
P.: Ja, wir waren geschockt, dass so etwas überhaupt stattfinden kann. Gerade, wenn man in der DDR aufgewachsen ist, hat man nicht gedacht, dass so etwas passieren kann. Es wusste niemand so richtig, was er machen soll.
Interviewerin: Wie alt warst du zu diesem Zeitpunkt?
P.: Ungefähr zwanzig.
Interviewerin: War es das erste Mal, dass du von pogromartigen Ausschreitungen gegen Asylsuchende oder Flüchtlinge gehört hast? Waren Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen die ersten Städte, in denen so etwas passiert ist?
P.: Also die Ausmaße dort waren ja extrem, ich denke solche Ausmaße gab es sonst nicht. In Frankfurt gab es natürlich auch Übergriffe, aber ich weiß jetzt nicht mehr, ob die davor waren oder danach. Das erste Mal, dass wir so etwas in Frankfurt erlebt haben, war bei der Öffnung der Grenze. Da gab es einen Überfall auf einen polnischen Bus.
Interviewerin: Was ist da genau passiert?
P.: Da haben sich Jugendliche bei der Grenzöffnung getroffen – ich denke mal, das waren Jugendliche – die nicht wollten, dass die Grenze aufgemacht wird. Die wollten keine Ausländer und haben ordentlich Radau gemacht.
Interviewerin: Waren das organisierte Gruppen gewesen, oder eher ein spontaner Mob, der sich zusammengeschlossen hat?
P.: Ich denke, dass es immer beides ist. Aber das ist ja heute wahrscheinlich nicht anders.
Interviewerin: Geschah dieser Übergriff direkt an der Grenze?
P.: Ja, direkt an der Stadtbrücke Frankfurt, kurz vor dem Übergang. Der Übergriff hat sich ewig hingezogen, vom Gefühl her lief es bestimmt zwei oder drei Stunden. Wir sind runtergegangen, mit ein paar Leuten, aber konnten auch bloß zugucken.
Interviewerin: Wie hat die Polizei darauf reagiert?
P.: Ich weiß das gar nicht. Die hat bestimmt reagiert, aber wahrscheinlich zurückhaltend. Vermutlich wollten sie erstmal die Leute schützen und den Mob ein bisschen zurückhalten. Aber ich glaube, die waren damals nicht in der Lage, irgendwelche aufgebrachten Leute zurückzudrängen. So kurz nach der Wende, da wusste noch niemand, was er darf und was nicht. Auch für Beamte war das sozusagen rechtsfreier Raum, jeder konnte machen was er wollte.
Interviewerin: Kannst du dich noch an andere Sachen erinnern, die du selbst miterlebt hast?
P.: Ja, in Frankfurt gab es täglich Übergriffe. Ob nun in der Straßenbahn oder vor dem Haus. Irgendwelche Jugendprojekte oder besetzte Häuser wurden fast täglich angegriffen. Oder Überfälle im Rahmen von Fussball-Großereignissen, wofür Frankfurt ja bekannt ist. Als Deutschland 1990 die Fußball-WM gewonnen hatte, sind wir auch in die Stadt gegangen, um zu gucken. Alle haben gefeiert, und dann kommt eine Handvoll Nazi-Hools und übernimmt die ganze Stimmung. Wir waren erschrocken, wie einfach das ist. Die haben einfach einen „Freudenmarsch" daraus gemacht, und der „Freudenmarsch" endete an einem besetzten Haus. Da gab es dann Ausschreitungen, die sich die ganze Nacht hinzogen. Die Polizei hat am Anfang nur zugeguckt.
Interviewerin: Und als es diese täglichen Übergriffe gab, wer waren denn die Gruppen, die davon betroffen waren? Würdest du sagen, dass es gegen stadtbekannte Linke oder auch Hausbesetzer ging oder auch gegen Flüchtlinge, Asylsuchende, Leute die "aussehen", als würden sie nicht-deutsch sein?
P.: Alle. Alle, die nicht in das Bild der Leute passen.
Interviewerin: Kannst du dich erinnern, was es damals für Diskussionen gab in den Gruppen, in denen du dich bewegt hast? Habt ihr überlegt, wie ihr damit umgehen sollt?
P.: In den Gruppen, in denen ich mich bewegt habe, gab es keine großen Diskussionen. Wir waren alle schockiert und hasserfüllt. Die Staatsmacht guckt zu, Politiker gucken zu, und es wurde abgewiegelt und gesagt, es seien nur Jugendliche, die sich ein bisschen austoben. Wir konnten uns nicht anders helfen, als auch mit Gewalt zu reagieren. Das war einfach, und darum gab es keine Diskussionen, denn das haben alle gemacht. Also alle diejenigen, die sich aktiv dagegen wehren wollten oder das nicht hinnehmen wollten. Und so etwas wie politische Arbeit hat erst später angefangen.
Interviewerin: Habt ihr irgendwie Solidarität von anderen Strukturen oder Gruppen oder auch aus der Stadt erfahren? Oder gab es einen Aufschrei?
P.: Es gab viele alternative Gruppen in Frankfurt, auch verschiedene Generationen und Umweltgruppen – alles mögliche. In den ersten Hausprojekten gab es ja keine autonome Szene, das waren alles Leute, die soziale Sachen machen wollten. Wir kannten uns, aber die wollten mit gewalttätigen Sachen nichts zu tun haben. Die Politik hat sich zurückgehalten, und die Polizei hat sich immer lange nicht sehen lassen. Wie gesagt, die wussten ja wahrscheinlich selber nicht, was sie dürfen und was nicht. Also haben wir uns selbst geholfen.
Interviewerin: Nochmal zurück zu den Ereignissen von Rostock und Hoyerswerda. Du sagtest vorhin, dass das besondere Ereignisse waren, vor allem in ihrer Dimension. Gab es denn dazu eine Diskussion?
P.: Ja klar, die Dimension war anders, vor allem, weil es über mehrere Tage ging und alle zusahen. Und du kannst dir die ganzen Sachen in den Medien angucken, wie eine Hungerkatastrophe oder wie einen Krieg im Ausland. Da war bei uns klar, dass alle hochfahren und versuchen, was zu machen. Sich in den Weg stellen oder irgendwie vor Ort gucken, was da überhaupt los ist.
Interviewerin: Aber du warst selbst nicht da, oder?
P.: Ich bin nicht hochgefahren, weil wir gerade mit einem anderen Projekt unterwegs waren. Das war ein Workcamp in Buchenwald. Da hatten wir schon den Bus gemietet. Aber die meisten sind hochgefahren, weil an dem Wochenende auch die große Demo war. Da war es nun endlich vorbei.
Interviewerin: Hast du eine Erklärung, warum nach der Wende die Übergriffe so angestiegen sind? Das war ja eine neue Qualität von Nazigewalt.
P.: So richtig nicht. Wir sind ganz anders aufgewachsen. Zu DDR-Zeiten gab es auch genug Gewalt und auch Nazi-Hools, die hießen bloß nicht Hooligans. Aber dann so ein Ausmaß nach der Wiedervereinigung – das war schon schockierend. Wie leicht die Leute zu mobilisieren sind! Warum die auf einmal so einen Hass hatten gegen alles andere. Das hat hier in der Stadt aber auch keinen interessiert.
Interviewerin: Es lässt sich ja auf jeden Fall feststellen, dass es heute anders ist. Was würdest du sagen, hat sich entwickelt, was hat sich verändert?
P.: Ich denke, das lag dann an der Politik. Sie mussten einfach was machen, nachdem sie sich dann geordnet hatten. Die Bilder sind ja um die Welt gegangen, und das geht ja nicht. Es hat sich aber auch alles entwickelt nach der Wende. Ob nun im Tourismus und auf anderen Gebieten. Es ging dann nicht mehr, dass man solche Neonazis ständig auf der Straße hat. Alternative und linke Gruppen haben sich dann auch organisiert und aufgebaut, es gab überall Projekte und Aufklärung, Jugendarbeit, dass eben andere Generationen vielleicht doch ein bisschen nachdenken, bevor sie irgendeinen Blödsinn machen. Viele der Neonazis sind dann doch in den Knast gekommen. Dadurch waren dann deren Hauptleute einfach eine ganze Weile weg.
Interviewerin: Kannst du dich erinnern, was damals in Frankfurt und Umgebung die relevanten Neonazistrukturen waren?
P.: Ich glaube, so feste Strukturen gab es gar nicht. Einfach bloß die „Hau-Drauf“-Leute am Anfang, da gab es noch gar keine politischen Aktivitäten, wie die NPD oder die Kameradschaften. Erst später sind dann irgendwelche Leute in der Jugendarbeit und in Altersheimen aufgetreten und haben sich überall reingemogelt in irgendwelche Vereine und Heimatgruppen. Am Anfang gab es einfach nur rumsaufen, rumprollen, rumpöbeln. Alles, was anders ist, muss weg.
Interviewerin: Das waren eher Freundeskreise, die irgendwie eine Subkultur haben, eine neonazistische, die sich nur treffen zum Saufen und dann geht es los, oder wie kann ich mir das vorstellen?
P.: Genau. Also so kam es mir damals vor. Es gab zwar Leute, die schon in der Zeit Kontakte zu anderen Städten aufgebaut haben, die sich getroffen haben, wo es dann auch schon die ersten Konzerte gab. In Frankfurt ist mir aus der Zeit nichts bekannt, aber zum Beispiel in Cottbus haben bekannte Bands gespielt. Wir hatten nach Cottbus auch Kontakte und sind deswegen auch hingefahren, um die Cottbusser Clubs vor den Nazis zu schützen.
Interviewerin: In Eisenhüttenstadt gab es ja seit kurz nach der Wende diese zentrale Erstaufnahmestelle für Asylsuchende, die es ja immer noch gibt. Weißt du, ob es da irgendwelche Übergriffe auf das Wohnheim von Asylsuchenden oder Flüchtlingen gab - ähnlich wie in Rostock-Lichtenhagen?
P.: Nein, weiß ich nicht. Ist mir auch nichts bekannt.
Interviewerin: Es soll wohl einen Vorfall gegeben haben, 1993 soll es einen Angriff auf diese Erstaufnahmestelle gegeben haben, aber wir haben bis jetzt nicht viel dazu gefunden.
P.: Wir haben uns damals auch mit Leuten aus Berlin getroffen, die alles für die Archive gesammelt haben. Aber zu denen hab ich keine Kontakte mehr. Eventuell hat die Opferperspektive vielleicht noch irgendwo Sachen aus den ganzen Städten.
Interviewerin: Du erwähntest vorhin, dass ihr Kontakt zu anderen Städten aufgebaut hattet. Was waren das damals für Städte, zu denen ihr Kontakt hattet, kannst du dich daran noch erinnern?
P.: Ja. Na hauptsächlich Ostbrandenburg. Das ging dann von Eberswalde, Bad Freienwalde runter bis nach Cottbus, Senftenberg, und was zwischendurch alles war. War schon sehr weitreichend. Das war auch sehr anstrengend damals, ständig überall hinzufahren. Wir haben uns ausgetauscht, die Kontakte gepflegt, und manche fingen dann später mit der Diskussion darum an, wie man jetzt politisch arbeiten kann. Gleichzeitig haben wir uns abgesprochen, dass Veranstaltungen sich bei uns nicht überschneiden. Oder dann eben auch Antifaarbeit, also zu gucken, welche Neonazikreise haben Verbindungen wohin. Oder eben nach Schwedt fahren, Gerichtsschutz machen für die Leute, in den Städten, wo es eben ganz extrem war.
Interviewerin: Was heißt Gerichtsschutz?
P.: Wenn du jetzt zum Beispiel Opfer wirst von Neonazis, und es kommt zur Gerichtsverhandlung, du traust dich aber nicht, auszusagen. Dann sind eben noch Leute in dem Verhandlungsraum anwesend, die zu dir stehen. Damit du nicht allein da bist, und dass vor dem Gericht und in der Nähe nichts passiert. Gerade Jugendliche oder Leute, die zum ersten Mal Opfer von Nazis wurden, oder Leute, die vielleicht gar keine Linken waren, sind teilweise danach noch bedroht worden und haben sich nicht getraut. Wir haben denen dann angeboten, sie zu begleiten und zu schützen, wenn sie gedacht haben, die Polizei kann sie nicht schützen.
Interviewerin: Wie würdest du jetzt in der Rückblende euer Verhalten damals beurteilen? Was hast du für ein Gefühl damit?
P.: Also im Nachhinein haben wir uns immer gesagt, war es erstaunlich, dass es keine Toten gab. War schon sehr übel und sehr extrem, wie miteinander umgegangen wurde. In der Rückblende hätte es wahrscheinlich sehr viele andere Möglichkeiten gegeben, aktiv gegen Nazis zu sein. Aber damals als Jugendlicher in der ganzen Masse, die so schockiert war, da hast du wahrscheinlich nicht anders nachgedacht und einfach gemacht, was die anderen machen. Im Nachhinein hättest du wahrscheinlich mehr Vereinsarbeit und Politik gemacht, oder hättest dann doch mit Leuten wie den Streetworkern mehr zusammengearbeitet, oder mehr Jugendarbeit organisiert, Projekte besser ausgebaut und nicht nur geplant, wo man jetzt die nächste Naziclique plattmacht.
Interviewerin: Ist auf jeden Fall eine krasse Bilanz, dass man Glück hatte, dass es keine Toten gab. Aber auf der anderen Seite würdest du sagen, dass dieser gewalttätige Widerstand auch wichtig war und funktioniert hat?
P.: Das hat funktioniert. Ich sag auch persönlich, dass es wichtig war. Andere sagen das nicht, aber meine Erfahrung ist das einfach und ich habe das öfter erlebt. Denn eine Naziclique, die ständig losgezogen ist in ihrem Revier und Stress gemacht hat und nie - hört sich auch blöd an - ernsthafte Gegner hatte, wenn die dann mal was auf die Mütze gekriegt haben, dann waren es danach nur noch halb so viele. Denn sie kannten das gar nicht, weil sie bis dahin immer nur ausgeteilt haben.