Interview mit *anonymous*

Interviewerin: Als du von Hoyerswerda und Rostock gehört hast, was hast du damals gedacht?

anon: Ich war relativ jung. Ich würde sagen, dass meine Wahrnehmung beziehungsweise meine Erinnerung an die Ereignisse eher von der Auseinandersetzung mit dem Thema in den Jahren danach geprägt ist. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich damals gedacht habe. Ich würde mich als gefühlt-links-anpolitisiert beschreiben und sagen, dass mich die Ereignisse von damals sprachlos gemacht haben und es damals keine Möglichkeit der Reflexion gab. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Eltern damals über die Nachrichten fassungslos waren.

Interviewerin: Kannst du dich erinnern, ob es in Cottbus bzw. in anderen Städten zu der damaligen Zeit auch pogromähnliche Überfälle bzw. Neonaziüberfälle gab?

anon: Soweit ich mich erinnern kann, gab es in Cottbus in einer oder zwei Nächten pogromähnliche Zustände vor dem Flüchtlingsheim. Hinzu kamen die Überfälle auf Einzelpersonen, die es am laufenden Band gab. Betroffen waren damals Leute, die sofort erkennbar waren als Linke, Punks oder als Menschen anderer Hautfarbe.

Interviewerin: Weißt du noch, wann das mit dem Flüchtlingsheim in Cottbus war?

anon: Genau kann ich das nicht mehr sagen. Ich würde es in die Zeit einordnen, in der es auch die Ausschreitungen in Rostock gab. Damals kannte ich schon Leute, welche sich auf den Weg zum Flüchtlingsheim gemacht haben. Sie wollten schauen, ob sie den Flüchtlingen helfen können beziehungsweise irgendeine Reaktion auf die Ereignisse möglich ist.

Interviewerin: Also, du warst selbst nicht vor Ort und hast das über deinen Freundeskreis wahrgenommen?

anon: Zum einen habe ich durch Erzählungen von Leuten, die ich kannte, von den Ereignissen am Flüchtlingsheim erfahren. Zum anderen wurden auch in der Lokalpresse darüber berichtet.

Interviewerin: Weißt du noch, was die Freunde darüber berichtet haben?

anon: Ja, dass es eine sehr krasse Erfahrung für sie war. Sie standen einer Übermacht gegenüber und hatten eigentlich keine Möglichkeit zu handeln. Ihnen war es nicht möglich, irgendwie in die Nähe des Flüchtlingsheims zu kommen beziehungsweise die Ausschreitungen zu verhindern. Es lief darauf hinaus, die Szenerie mehr oder weniger zu beobachten oder am Rande in irgendeiner Art und Weise tätig zu werden. Ich würde sagen, dass die Gegenreaktionen in Sachsendorf nicht so groß waren wie zum Beispiel in Rostock. Da hatten sich ja größere Gruppen auf den Weg gemacht, um die Nazis zu vertreiben.

Interviewerin: Und waren das nur Nazis, oder war auch die Bevölkerung beteiligt?

anon: Ich gehe davon aus, dass es nicht nur Nazis waren. Denn wären es nur Nazis gewesen, wären sie nicht so wirkungsmächtig gewesen. Das war keine Nacht-und-Nebel-Aktion, sondern die Nazis hatten das Gefühl, dass sie das Richtige taten. Dieses Gefühl wurde zum einen durch entsprechende Schaulustige vor Ort beflügelt. Zum anderen spielte natürlich auch die überforderte Polizei eine entscheidende Rolle. Ich würde sagen, dass die Bevölkerung auf eine Art, wenn auch nur in passiver Form, beteiligt war.

Interviewerin: Und weißt du noch, wie die Presse darüber berichtete hat?

anon: Nein, das weiß ich nicht mehr.

Interviewerin: Und wie ist das dann ausgegangen? Kannst du dich daran erinnern?

anon: Die Leute, die damals vor Ort waren, berichteten, dass das Ganze irgendwann im Sande verlaufen ist. Zum einen die Ausschreitungen am Heim direkt, aber auch eine mögliche strafrechtliche Verfolgung im Nachhinein.

Interviewerin: Kannst du dich vielleicht an ein anderes konkretes Ereignis erinnern, bei dem du vielleicht mehr beteiligt warst, in der Schule, im Alltag, Jugendklub?

anon: Na ja, es gehörte so ein bisschen zum Alltag, dass man immer angemacht wurde. Ob in der Schule oder in dem Viertel, in dem man gewohnt hat. Als ich damals eine Affinität zum Punk-Dasein entdeckt hatte, war ich davon auch betroffen. Diese Geschichten gingen aber meistens relativ glimpflich aus. Dies lag zum Teil daran, dass man die Leute aus der Schule oder aus dem Wohnumfeld kannte. Aber es schwelte immer das ungute Gefühl mit, dass man früher oder später, wenn man vielleicht noch dezidierter seine Meinung kundtut und älter wird, vielleicht wirklich mal zusammengelegt wird. Aber zu dem Zeitpunkt war ich zu jung, und ich wirkte auch nicht gefährlich. Ich war halt ein kleiner, schmächtiger Junge, der so etwas wie ein Pseudo-Iro trug. Ich wurde da nicht ernst genommen. Das war vielleicht ein bisschen das Glück.

Zu einem konkreten Ereignis, bei dem ich auch das erste Mal in einen physischen Konflikt verwickelt war: Ich wurde damals von einem älteren Punk informiert, dass sich in der Nähe Nazis versammeln. Ich ließ mich also mitziehen. Wir wurden dann mit wehenden Fahnen durch die Gegend gejagt und konnten uns nur noch in ein Hochhaus flüchten. Und wieder eskalierte die Situation nicht völlig, da zum einen sich einige Punks und Nazis kannten und zum anderen irgendwann die Polizei kam. Ich weiß noch, dass ein älterer Polizist, offensichtlich nicht der große Analyst, zu uns sagte: „Werdet doch einfach alle rechts, dann habt ihr auch keine Probleme mehr.“ Damals hatte ich richtig Schiss.

Interviewerin: Kannst du dich an einen Abholdienst für besonders gefährdete Leute erinnern?

anon: Nein.

Interviewerin: Kann du dich erinnern, inwieweit sowohl gesellschaftlich als auch kommunalpolitisch mit dem Problem des erstarkenden Rechtsradikalismus umgegangen wurde?

anon: Mein Eindruck war, dass es in erster Linie darum ging, dass das Bild der jeweiligen Stadt oder Gemeinde darunter leidet, wenn es dort rechte Ausschreitungen gab. Dass damals Leute getötet beziehungsweise fast getötet wurden, spielte eine nebensächliche Rolle. Das Ansehen der Stadt musste gewahrt bleiben.

Interviewerin: Aber wenn du dich noch an eine andere konkrete Situation erinnerst außer der...

anon: ...außer der, von der ich gerade berichtet habe?

Interviewerin: Ja genau. Dann kannst du die auch gerne noch erzählen.

anon: Es gab genug andere Situationen. Ich habe diese eine Geschichte erzählt, weil es damals das erste Mal war, dass ich unmittelbar mit der Bedrohung konfrontiert wurde, ohne dass ich selbst irgendetwas getan hatte, außer mich mitschleifen zu lassen. Dies finde ich im Nachhinein auch nicht schlecht, beziehungsweise ich bereue es nicht.

Interviewerin: Du sagst, du hast noch andere konkrete Erinnerungen. Gibt es da vielleicht ein Ereignis, welches wir uns genauer ansehen können? Zum Beispiel unter der Fragestellung, wie das Verhalten von Passanten, Anwohner oder der Polizei war.

anon: Da gab es eine Auseinandersetzung auf dem Bahnhofsvorplatz mit Berliner Neonazikadern aus dem FAP-und Biker-Umfeld. In diesem Zusammenhang wurden Leute von der Polizei mitgenommen und in Zellen gesteckt. Es kam dann zu einer fragwürdigen Gegenüberstellung. Die Polizei hat die Nazis einfach an den Zellen vorbeigeführt, und die Nazis sollten sagen, wer von den Leuten an der Auseinandersetzung beteiligt war. Dieses, ich sage mal, nicht besonders rechtsstaatliche Verhalten, führte dann auch zu Prozessen.

Interviewerin: Kannst du eine Veränderung der Situation von Anfang der 1990er bis Mitte der 1990er beschreiben?

anon: Ich würde sagen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe dazu geführt hat, dass der Angstfaktor, der anfänglich stark war, immer mehr in den Hintergrund geriet. Das hatte mehere Gründe. Zum einen wurden bestimmte Orte gemieden oder entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Es gab aber auch Zonen, in denen man sich frei bewegen konnte, in die sich die Nazis nicht mehr trauten. In diesen Zonen, die eben nicht national befreit waren, konnten sich dann ganz andere Ansätze entwickeln. So zum Beispiel Vereinsgründungen, um tiefer in die Gesellschaft wirken zu können. Parallel dazu gab es immer mehr Bürgerbewegte, die auf all die Ereignisse mit Lichterketten reagierten und hofften, damit dem Thema Herr zu werden. Wir haben damals versucht mit diesen Leuten zu reden, ihnen die Augen zu öffnen, ihnen zu zeigen, dass dies nichts bringt beziehungsweise sich die Täter nur totlachen. In der Nachbetrachtung finde ich diese Reaktion der Bürger gar nicht mehr so schlimm. Es war halt ein Versuch, auf die Ereignisse zu reagieren.

Interviewerin: Ja, das war es dann eigentlich auch schon. Danke schön.

anon: Gern geschehen.