Interview mit Marieta Böttger

Interviewerin: Sie waren Ausländerbeauftragte des Landkreises Barnims, jetzt sind Sie Integrationsbeauftragte. Wie lange machen Sie das schon?

Marieta Böttger: Ich habe diese Stelle zum 1. September 1991 angetreten und wusste nicht, was auf mich zukommt. Ich hatte eigentlich nur einen Wunsch: Nicht mehr als Lehrerin zu arbeiten. Damals gab es eine Ausschreibung, und ich habe mich beworben und bin genommen worden. Sehr schnell habe ich gemerkt, dass es ohne Unterstützung nicht geht. Ziemlich zeitnah habe ich mir deshalb potentielle Partner eingeladen, von den Verwaltungen bis hin zur Zivilgesellschaft, Jugendamt, Sozialamt, Gleichstellungsbeauftragte und andere. Wir haben versucht, erst mal zu recherchieren, wie die Situation sich darstellte, welche Probleme es gab und welche potentiellen Unterstützer. Schnell war klar, dass das Thema in der Verwaltung noch nicht angekommen war. Dann haben wir 1992 den „In- und AusländerInnenkreis“ im Eberswalder Begegnungszentrum “Wege zur Gewaltfreiheit” gegründet. Das war ein Glücksfall, weil es dort Menschen gab, die sich mit Umgang mit Gewalt, gewaltfreien Konfliktlösungen, Gegenstrategien und dergleichen bereits seit der Wende beschäftigt hatten. Als ich anfing, war ich mit dem Thema in keiner Weise vertraut, brachte aber eine große Offenheit, viel Interesse und Lust auf das neue Aufgabengebiet mit. Dann hat uns die damalige Landesbeauftragte, Almuth Berger, mitgeteilt, dass in Eberswalde etliche Frauen wohnten, die in bi-nationalen Beziehungen und Ehen mit Afrikanern lebten und ganz große Angst hatten. Ich habe versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und sie zu besuchen. Diese Frauen waren völlig verängstigt und haben erst die Tür geöffnet, nachdem ich ihnen erklärt hatte, wer ich bin und dass ich ihnen helfen möchte. Gemeinsam haben wir versucht, eine Selbsthilfegruppe in Gang zu bringen. Betroffene aus West-Berlin wollten helfen, aber irgendwann war klar, dass es nicht harmonierte aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten und der sehr anderen Sozialisation in Ost und West. Die Berliner wollten grundsätzliche Fragen klären, während die Eberswalder Frauen einfach nur einen geschützten Raum und Hilfe suchten. Die nächste Zäsur war dann der Prozess gegen die rechtsextremen Täter, die mit brutaler Gewalt den angolanischen Vertragsarbeiter Amadeu Antonio zu Tode getreten haben. Ich war an vielen Prozesstagen dabei und war sehr entsetzt, wie lax der Richter damit umgegangen ist, was der selbst für ein rassistisches Vokabular verwendete. Ich habe damals zum erste Mal eine Berliner Antifagruppe erlebt, die an unserem Protestmarsch teilnahm, den wir als Schweigemarsch geplant hatten. Sie brüllten immer: „Hoch die internationale Solidarität!“ und provozierten die Polizei auf für uns unerträgliche Weise bis hin zu Gewaltangriffen. Damit wurde klar, dass wir etwas Eigenes schaffen müssen. Ein Ergebnis war die Gründung des „In- und AusländerInnenkreises“, der sich viele Jahre regelmäßig getroffen hat und seine Arbeit erst beendete, als wir einen „Beirat für Migration und Integration“ - damals hieß er ja noch „Ausländerbeirat“, gegründet hatten. Was habe ich sonst noch wahrgenommen? Natürlich eine unheimlich Abwehrhaltung. Es hieß: “Das war Zufall, dass das in Eberswalde passierte, das hätte überall passieren können.” Anfangs war ich auch der Meinung. Aber gleichzeitig fragten wir uns, was müssen wir unternehmen, weil es diesen geographischen Bezug genau hier gegeben hat, weil der Stadt sonst auf ewig dieser Ruf anhängt? Erste Gruppen bildeten sich, um darüber nachzudenken, welche Gegenstrategien sie entwickeln können. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass es am Tatort eine Gedenktafel gibt, die auf das Verbrechen hinweist. Ich gestehe, dass wir auch ein bisschen von außen gedrängt worden sind. Die erste Erinnerungsdemonstrationen wurde jedenfalls von Berliner Gruppen organisiert. Es wurde immer deutlicher, wie bedeutend dieses Erinnern für das gesellschaftliche Klima dieser Stadt wurde, wie wichtig es ist, Menschen in dieser Stadt zu erreichen, und wenn es nur durch die Zeitungsmeldung war oder dadurch, dass sie im Bus warten mussten, weil wir dort gerade die Gedenkveranstaltung durchführten und die Straße deshalb gesperrt war. Ganz wichtig und mitentscheidend für das Klima in der Stadt war, dass 1994 der afrikanische Kulturverein „Palanca“ gegründet wurde und die Afrikaner damit einen Treffpunkt für sich hatten. Der Verein hat seitdem besonders in Schulen gearbeitet und so zur Verbesserung des Klimas beigetragen Vorher war es ja so, dass sie sich in ihren Wohnungen getroffen haben, und dann kam mehrmals die Polizei, gleich mit einem richtig großen Mannschaftswagen. Die Afrikaner konnten die Welt nicht mehr verstehen. Sie hatten nichts verbrochen, hatten abends nur ein bisschen laut zusammen gesessen. Die Nachbarn beschwerten sich, und daraufhin kam die Polizei. Der Angolaner Moises Mvuama und ich sind damals zur Polizei gegangen und haben das Problem auf der Ebene des Behördenleiters angesprochen, um auch deutlich zu machen, was das für ein fatales Signal ist: Ein Afrikaner wird zusammengeschlagen, und die Polizei greift nicht ein, und dort sitzen Afrikaner friedlich zusammen, und die Polizei rückt in Größenordnungen an. Gleichzeitig gab es damals noch weitere Übergriffe auf Frauen von Afrikanern, teilweise mit schweren Körperverletzungen. Leider ist eins der Gerichtsverfahren auch noch verschleppt worden. Nach 9 Jahren sollte sich das Opfer erinnern, um die Täter zu überführen; wahrlich kein Glanzstück deutscher Gerichtsbarkeit. Und ich erinnere mich noch an einen Sonnabend Nachmittag. Da saßen wir zu dritt oder zu viert bei einem betroffenen Paar in der Wohnung, einfach so als moralische Stütze. Wir wollten uns solidarisch erweisen, aber auch zeigen, dass es hier Menschen gibt, auf die sie sich verlassen können. Daraus sollte eigentlich eine Telefonkette entstehen, was schwierig zu realisieren war. Es gab noch lange nicht in jedem Haushalt ein Telefon. Wir wollten dann erreichen, dass wenigstens diese gefährdete Gruppe mit Telefonanschlüssen versorgt wurde, leider ohne Erfolg. Als dann auch noch das Asylbewerberheim in Eberswalde brannte, hat mich niemand erreicht, weil die Telefonkette doch noch nicht stabil war. Mich konnte man damals nur über meine Nachbarin erreichen, da wir selbst auch noch kein Telefon hatten. Das können sich junge Menschen heute kaum noch vorstellen. Oder die Tatsache, dass die Nazis Anfang der 1990er Jahre durch Eberswalde marschierten, dass einem wirklich Angst und Bange werden konnte und sich ihnen damals niemand entgegengestellt hat. Bei der Stadtverwaltung hatte ich lange den Eindruck, dass es immer eine Abwehrhaltung gab. Wie gesagt, mit diesem berühmten Argument: “Das hätte auch woanders passieren können und ist nicht unser Problem.” Als der Bosnienkrieg begann, hat die Stadt immerhin gesagt: „Wir müssen was tun.“ und hat 11 bosnische Kriegsflüchtlinge über die Aktion “Den Krieg überleben” nach Eberswalde geholt. Die waren dann auch da, aber letztendlich war die Stadt auch ein Stück überfordert, und sie wurden, wie jeder andere Flüchtling, durch den Landkreis versorgt. Erst mit dem Amtswechsel – damals wurde Herr Schulz Bürgermeister - kam etwas Bewegung in die Stadt. Das begann kurz nach seinem Amtsantritt im Zusammenhang mit dem Balkankrieg, mit der Aktion „Kerzen für den Frieden“. Damals habe ich sehr gestaunt, dass dieser Bürgermeister sich sofort an die Spitze gestellt hat. Von da an hatte man in der Stadt Eberswalde ein bisschen mehr Zugang zu dem Problemfeld. Bereits vorher, als das Asylbewerberheim in Eberswalde abgebrannt war, hatte die Stadt relativ schnell zu einer Protestdemo aufgerufen, die auch sehr gut besucht war. Insgesamt war es ziemlich viel, was auf alle einströmte. Sehr federführend im zivilgesellschaftlichen Bereich war damals die Evangelische Jugendarbeit unter Hartwin Schulz, ein ganz wichtiger Verbündeter, mit dem ich seit dem auch immer wieder zusammen gearbeitet habe. Der hat mit Jugendlichen die Veranstaltungsform "Rock me Magdalena" ins Leben gerufen, was ich immer als wichtig empfand, um jungen Leuten Alternativen aufzuzeigen und einen guten Ort anzubieten. Das wurde dann über viele Jahre zu einem Treffpunkt für viele junge Eberswalder, richtig kultiviert, mit anspruchsvollem Programm, Zeit zum Reden. Das war jedes Jahr ein Highlight, aber über das Jahr verteilt gab es weitere Aktionen, zum Beispiel zum 8. Mai oder zur Interkulturellen Woche. Einerseits gab es also das Bemühen, sich einzubringen, sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Stadt- und Kreisverwaltung, aber andererseits wollte man den Ball so flach wie möglich halten und bloß nicht so viel Aufsehen darum machen. Das ist bis heute so geblieben, die Angst. Zum Beispiel gibt es jetzt ja in Eberswalde dieses neue Denkmal für die Synagoge. Die Angst war im Vorfeld groß, dass da jeden Tag Naziparolen dran stehen würden, die man dann ja wieder beseitigen muss. Das spiegelt insgesamt die gesellschaftliche Situation wider, die sich zwischen „Wir dürfen uns nicht in Illusionen wiegen, dann sehen wir, was wirklich Fakt ist.“ und „ Aber das wirft doch wieder ein schlechtes Bild auf uns.“ bewegt.

Interviewerin: Wollen wir noch mal zurück zum Anfang? Rostock-Lichtenhagen oder auch Hoyerswerda, oder auch den Übergriff auf Antonio Amadeu – hat Sie das damals überrascht, dass so was passiert?

Marieta Böttger: Nein. Das hat mich, zumindest was Rostock angeht, nicht mehr überrascht. Als es in Hoyerswerda die Ausschreitungen gegen die Vertragsarbeitnehmer gab, war ich noch nicht so in der Materie drin, aber ich erinnere mich noch, dass wir 1992 nach Hoyerswerda gefahren sind. Die Konrad- Adenauer-Stiftung hatte damals zu einer Konferenz eingeladen und uns da mit sehr vagen Theorien auch ein Stück weit irritiert. Ein Referent meinte, es wäre ein Urtrieb des Menschen, sein Gebiet, sein Territorium zu verteidigen. Und dieses müsste man in der Auseinandersetzung mit den Tätern zumindest mit betrachten. Das fand ich damals sehr spannend, aber diese These habe ich in dem Kontext nicht wieder gehört. Lichtenhagen hat mich nicht überrascht, weil gleichzeitig bundesweit eine riesige Pressekampagne „Das Boot ist voll“ lief. Selbst Regine Hildebrandt sprach von Wirtschaftsasylanten. Die Atmosphäre war sehr aufgeheizt. Es war eigentlich klar, dass die Regierung ganz schnell einen Riegel vorschieben wollte, damit nicht mehr so viele Asylbewerber kommen konnten. Vor Ort hatten wir natürlich auch wirklich einen Riesenaufwand und Riesenprobleme mit der Unterbringung. Es war so, dass die Bundesregierung per Beschluss festgelegt hatte, dass so und so viel Prozent der Flüchtlinge in die neuen Bundesländer gehen. Da wurde nicht gefragt, gibt es da eine Infrastruktur, gibt es da Häuser, gibt es Menschen, die Ahnung davon haben. Da sind wir hier natürlich auch ganz schön überrollt worden. Dienstags kam der Anruf, und am Freitag kam wieder eine Busladung voller Asylsuchender. Wir wussten nicht, wohin mit ihnen. Es waren ziemlich chaotische Zustände, das hätte man deutlich besser vorbereiten müssen, dann wäre wahrscheinlich vieles von dem, was nach außen schwappte und an Aversionen hochkam, nicht so ausgeprägt gewesen. Lichtenhagen war ja das beste Beispiel. Jeder wusste, dass dieser Block völlig überfüllt war. Die Behörden haben die Leute draußen campieren lassen. Ich war jetzt gerade in Istanbul auf dem Flughafen, als wir nach Israel geflogen sind. Dort campierte eine große Gruppe Afrikaner, und als wir zurück kamen, waren sie immer noch dort. Das hat mich sehr an die Bilder von Lichtenhagen erinnert. Damals hat man die Situation einfach in Kauf genommen, auch um zu zeigen, dass das Boot voll ist und Deutschland nicht mehr Menschen aufnehmen will. Und dann ist es umgeschlagen. Aber das hat die Politik bis heute nicht begriffen. Gerade in diesem Jahr, als die Gedenkveranstaltungen waren, wurde das noch mal deutlich. Es erschien mir jedenfalls nicht so, als wenn dabei auch nur einem Politiker die eigene Verantwortung bewusst gewesen wäre. Wir hatten also Flüchtlinge aufzunehmen, und uns standen dafür nur abgelegene Ferienlager – mitten auf dem Feld oder in einem Dorf – zur Verfügung, nicht wie im Altkreis Bernau, wo wenigstens noch einigermaßen ordentliche Liegenschaften aus Stasi-Zeiten vorhanden waren. Und es gab diese Einwohnerversammlungen mit Dorfbewohnern, die das alle nicht wollten. Wobei man sich natürlich auch fragen muss, kann so ein 150-Einwohner-Dorf gut damit umgehen, wenn noch 100 andere Menschen aus aller Welt dazu kommen? Macht es sich nicht wirklich besser, diese in den Städten unterzubringen? Ich denke, dass die damalige Konzeptionslosigkeit die Atmosphäre noch mal mächtig aufgeheizt hat. Nicht nur Konzeptionslosigkeit, auch diese Abwehrhaltung, die die Medien noch vertieften.

Interviewerin: Warum war das so ein wirkungsmächtiges Thema auf einmal?

Marieta Böttger: Es ist unheimlich gepuscht worden. Die Bevölkerung hat ja jeden Tag zu hören bekommen, dass man die Asylgesetzgebung kippen müsse. Das blieb nicht ohne Folgen. Letztendlich hat man es geschafft. Das Grundrecht auf Asyl wurde de facto abgeschafft und das Asylbewerberleistungsgesetzt eingeführt. Das hatte man kampagnenmäßig vorbereitet. Vor Ort hatten wir große Schwierigkeiten, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, und dann entstand die Idee, in der Stadt Eberswalde ein Heim aufzumachen. Das muss im Sommer 1992 gewesen sein. Auch unter ziemlich schlechten Bedingungen: Das war vorher ein Lehrlingswohnheim, also was für Lehrlinge in der DDR möglich war, musste dann auch für Flüchtlinge akzeptabel sein. Aber die Baracke war in einem wirklich schlechten Zustand. Das würde heute keiner mehr so zulassen und so einrichten. Und am ersten Adventssonntag 1992, in der Nacht zum 1. Advent, ist dieses Heim abgebrannt. Bis heute ist nicht so 100% klar, aus welcher Motivationslage der Brand gelegt wurde. Die Justiz hat bei den Verhandlungen die Öffentlichkeit nicht informiert. Einiges kam dann nur als Feedback von der Polizei, und da hieß es, aus persönlichen Motiven heraus ist das Feuer gelegt worden. Das war wohl kein rassistisch motivierter Vorfall, aber es war natürlich trotzdem eine schwierige Situation, von heut auf gleich die Flüchtlinge von dort wegzubringen und eine neue Unterkunft zu finden. Wir haben die Betroffenen dann zwischenzeitlich in Brodowin in einem riesengroßen ehemaligen Pionierferienlager untergebracht und haben dadurch natürlich auch nicht gerade nur Freudensprünge erzeugt. Dann wurden einige der Flüchtlinge zwischendurch wieder nach Eberswalde zurückgeholt, weil Zimmer im alten Sozialamt dafür vorbereitet waren. Es war wirklich so, dass die Brandmeldung durch alle Medien bis nach Amerika ging. Wieder Eberswalde, wieder ein Asylbewerberheim. Dass dann aber hunderte Eberswalder am nächsten Tag auf der Straße waren, um dagegen zu protestieren , das war dann nur dem ORB eine Meldung wert. Ich war und bin nicht für das Image der Stadt zuständig, damals hat es mich schon geärgert, gebe ich ehrlich zu.

Interviewerin: Das Heim war zu dem Zeitpunkt auch belegt und bewohnt, und es ging aber dann glimpflich aus der Vorfall?

Marieta Böttger: Ja, das war eine Baracke, alle kamen raus, und wir haben sie dann gleich in unmittelbarer Nachbarschaft untergebracht. Da war früher ein Evangelisches Gemeindehaus, und dort konnten sie erst mal bleiben, bis wir dann eine Möglichkeit fanden, diese Leute in Brodowin unterzubringen.

Interviewerin: Es kam dann aber da zu Verurteilungen?

Marieta Böttger: Da bin ich wirklich überfragt, weil das eine Geschichte ist, die so ein bisschen im Sande verlaufen ist. Die Gerichtsverhandlung war medial nicht präsent und das Ganze nicht zu fassen. Wir haben aber als „In-und AusländerInnenkreis“ mehrfach nachgefragt. Mir ist das bis jetzt wirklich nicht so richtig bewusst oder bekannt, wie das ausgegangen ist.

Interviewerin: Sie sagten: „Schon wieder Eberswalde, schon wieder ein Heim.“ Gab es in Eberswalde vorher schon Angriffe auf ein Asylheim?

Marieta Böttger: Nein, ich meine, wegen der Ermordung von Amadeu Antonio, war Eberswalde ja schon mal in den Schlagzeilen.

Interviewerin: Können Sie dazu vielleicht noch mal Leuten, die davon vielleicht noch nie was gehört haben, in ein paar Sätzen schildern, was da passiert ist?

Marieta Böttger: In Eberswalde gab es einen beliebten Treffpunkt der angolanischen und mosambiquanischen Vertragsarbeiter, den sogenannte „Hüttengasthof“, genau zwischen Eberswalde und Finow, an der Kreuzung zum Brandenburgischen Viertel gelegen, wo sie sich regelmäßig getroffen haben. Gleichzeitig hatte sich in Eberswalde im Herbst 1990 sehr stark die rechte Szene etabliert. Verschiedene Kameradschaften oder ähnliche Gruppierungen hatten sich gebildet. Eine Gruppe junger Neonazis traf sich in Finow im Jugendklub und hat sich sozusagen zusammengerottet und ist losgezogen „Neger aufzuklatschen“. Das ist auch so offiziell im Gerichtsprozess immer mal wieder genannt worden. Und die haben einen ziemlichen Zug der Verwüstung von Finow bis zu diesem mittleren Ortsteil hinterlassen. Die Polizei hat das von der Ferne beobachtet, war nicht in der Lage einzugreifen. Warum auch immer, da müsste man die Polizei fragen. Die Afrikaner waren noch in der Gaststätte und sind aber gewarnt worden. Einige sind auch noch rechtzeitig geflohen. Ihr Wohnheim lag in Richtung Finow. Sie mussten sich also sputen, um da noch hin zu kommen. Einige haben es nicht mehr geschafft und sind von dieser Meute angegriffen und geschlagen worden. Es gab mehrere Verletzte. Amadeu Antonio ist zu Boden gegangen und dann zu Tode getrampelt worden. Und die Polizei hat zugeguckt aus sicherer Entfernung. Auch das ist eine Tatsache.

Interviewerin: Und wie haben Sie das damals als Bürgerin aus Eberswalde wahrgenommen, die Medien hinterher oder das was als es als Reaktion gab? Gab es eine Reaktion von der Politik oder von der Zivilgesellschaft?

Marieta Böttger: Ich denke mal, so gut wie keine. Das war so ein Ding von ganz vielen in dieser Umbruchssituation, in diesem „Wie geht's weiter, wo gehöre ich hin, wer wandert aus, wer bleibt da?“ Das ist damals wirklich nicht so wahrgenommen worden, muss ich ehrlich sagen, auch mit dieser Tragweite, mit dieser rassistischen Begründung. Auch nicht unter der Fragestellung, wohin es mit dieser Gesellschaft geht. All diese Fragen sind nicht gestellt worden. Ich weiß nur, dass zwei Tage später der Kreistag des Landkreises Eberswalde tagte und dass man eine Resolution verabschiedet hatte, die Familie zu unterstützen. Das ist erst in diesem Jahr eingelöst worden. Zumindest finden sich keine Unterlagen mehr, die belegen, dass damals etwas erfolgte. Es gab während dieser Sitzung des Kreistages auch eine Abstimmung darüber, dass der Landkreis die Kosten der Überführung des Toten nach Angola bezahlt, und selbst da soll es zwei Gegenstimmen gegeben haben. Das ist die bittere Realität, das sind die Fakten. Und erst im Laufe der Jahre 1991,1992 gab es dann immer mehr Leute, die gesagt haben: Wir müssen hier was machen. Weil es ja nicht nur dieser Fall war, sondern es insgesamt ringsherum brodelte. Ein Jugendklub wurde von Rechtsaußen besetzt, beim nächsten sammelten die sich auch schon. Es war eine sehr deutliche Unsicherheit und Angst vorhanden, und daraus entstand bei einigen die Reaktion, den Kopf in den Sand zu stecken und bei anderen die Idee, etwas tun zu müssen.

Interviewerin: Sie meinten vorhin auch schon, dass die Nazis in Eberswalde sehr präsent waren. Wie kann man sich das vorstellen?

Marieta Böttger: Die haben sich regelrecht breit gemacht. Da müssten Sie vielleicht auch noch mal Leute fragen, die mit Jugendamtsthemen zu tun haben. Dann gab es dieses AGAG - „Projekt gegen Aggression und Gewalt“. Man wollte mit den rechtsorientierten Jugendlichen arbeiten. Akzeptierende Jugendarbeit oder was auch immer, und damit hat man die in einzelnen Projekten eigentlich noch gefördert in ihren Strukturen, was eben überhaupt nicht ging. Danach hatten sie zumindest den Jugendklub im Leibnizviertel besetzt. Auch der „Bahnhof“ war eine zeitlang in der Hand dieser Gruppen. Also sie waren damals dominierend und überall zu sehen, Bomberjacke, Springerstiefel, dummes Gequatsche, ganz viele Parolen, Hakenkreuze an Wänden und Laternen. Des öfteren haben sie Demonstrationen angemeldet und sind durch die Stadt gezogen. Ich war abends zu Hause, und mit einem Mal hörte ich dieses „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ und schaute aus dem Fenster, und die marschieren unten in der Robert-Koch-Straße an unserem Haus vorbei. Ich habe mich an '33 erinnert gefühlt, das war schon mehr als beängstigend.

Interviewerin: Und das wurde zu dem Zeitpunkt hingenommen von den Leuten?

Marieta Böttger: Ich weiß bis heute nicht, ob von der Polizei überhaupt weitergegeben wurde, dass so etwas stattfindet. Heute hat man Handys, Internet. Da kann man schnell die Infos weitergeben, aber zu der Zeit... Ich habe es erst an dem Abend mitbekommen, als sie vorbeimarschierten. Bedeutsam für die Gesamtentwicklung war die Tatsache, dass auch einige Studierende der Fachhochschule in Eberswalde auf dem Bahnhof angepöbelt und angegriffen wurden, vor allem diejenigen, die ein bisschen bunter aussahen, wo man annehmen konnte, dass sie zu einer anderen politischen Strömung gehörten. Die Studierenden haben dann 1996,1997 versucht, eine Aktionswoche ins Leben zu rufen, verbunden mit der „Aktion Noteingang“. Das hat sich dann auch die Leitung der Fachhochschule auf die Fahne geschrieben. So wurde die Aktionswoche professionell gecoacht, mit einer großen Außenwirkung. Sie haben eine ganze Aktionswoche initiiert. Unter anderem ist auch der Propagandafilm „Jud Süß“ gezeigt worden, mit anschließender wissenschaftlicher Erörterung. Da hat man auch nicht alle reingelassen. Die Polizei hat uns beschützt, und draußen standen die Typen. Das war also auch so eine ziemlich tiefe gruselige Empfindung. Daraus hat sich dann letztendlich das „Netzwerk für ein tolerantes Eberswalde“ entwickelt. Ich glaube, das ist 1997 gegründet worden. Durch die damalige Polizeipräsidentin, Uta Leichsenring und den Schutzbereichsleiter, Hans-Jürgen Klinder, gab es eine ganz andere Offenheit innerhalb der Polizei. Die haben sich da teilweise auch an die Spitze der Bewegung gesetzt und haben uns ganz anders informiert über all die Dinge, die so anstanden, auch über Vorfälle, sodass man nicht jedes Mal völlig verdattert war, wenn wieder was passierte. Das ist heute wieder anders, es ist schwieriger geworden. Die Polizei hat lange nicht mehr soviel mit der Zivilgesellschaft am Hut. Die sehen immer ihre polizeiliche Strategie und meinen, dass man keine Sitzblockaden oder ähnliches machen darf, weil es dieses Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit gibt und dergleichen mehr. Damals sind wir auch immer wieder mal ins Gespräch gekommen und auch in die Auseinandersetzung.

Interviewerin: Das heißt aber auch, dass diese zivilgesellschaftlichen Bündnisse erst fünf Jahre später überhaupt zum Tragen kommen?

Marieta Böttger: Nun, das erste zivilgesellschaftlichen Bündnis war vielleicht noch keins, das war eine Vorstufe in Form des „In- und AusländerInnenkreises“, der sich regelmäßig getroffen hat, Infos ausgetauscht hat, überlegt hat, wie man sich einbringen kann. Aber wir haben es nicht geschafft, uns wiederum mit anderen Gruppen aus anderen Städten auf Landesebene oder wie auch immer zu vernetzen. Wir waren nur ein kleiner „Haufen der Aufrechten“ oder wie auch immer. Das hat sich danach mit dem Agieren auf Landesebene durch das „Tolerante Brandenburg“ und anderes auf einmal völlig verändert. Danach war das ein wichtiges Thema oder eine Aktion, die man gemeinsam mit dem Bürgermeister oder gemeinsam mit der Polizei machen konnte. Das wurde vorher zwar nicht beargwöhnt aber durchaus angezweifelt: “Wir haben doch hier schon so viele Probleme, und wegen eines Afrikaners machen die jetzt diesen Aufriss.“ Aber diesen Gesamtzusammenhang, was sich da eigentlich entwickelt hatte, und wie viel manpower und auch durchaus Ideologie dahinter steckte bei diesen rechtsextremen Gruppierungen, das ist erst danach so langsam deutlich geworden. Am Anfang haben wir alle gedacht: „Das sind alles nur Dumpfbacken, die hier Schläge verteilen.“ Aber was da wirklich auch dahinter steckt, wurde erst allmählich bewusst. Ich war in Bernau eingeladen bei der Heimvolkshochschule zu einer Diskussionsrunde mit Schülern einer 11. Klasse aus Teltow-Fläming. Erst habe ich gedacht, ich bin im falschen Film. Die waren ausgestattet mit einem festgefügten, rechtsextremen Gedankengut, dass ich das überhaupt nicht fassen konnte. Auch ich hatte das eine zeitlang eher als ein „Unterschichtenthema“ abgetan. Durch viele solcher Erfahrungen war mir dann deutlich, dass das auch noch in ganz anderen Bereichen Fuß gefasst hatte. Die Schüler fragten mich, warum die Afghanen nicht nach Hause gehen und in ihrem eigenen Land für Ordnung und Recht und Sicherheit sorgen. Und dann kamen sie mir mit irgendwelchen geschichtlichen Parallelen, wo das eben so passiert wäre. Da habe ich wirklich gemerkt, wie tief diese Ideologie in dem Denken dieser wohlsituierten jungen Leute verankert war, welche Ignoranz und Abwehrhaltung gegenüber Fremden sie ausströmten. Manchmal stelle ich mir heute noch die Frage, wo die eigentlich alle geblieben sind und was die jetzt machen. Ob die das abgelegt haben, oder kultivieren die das nicht gerade auf eine ganz andere Art und Weise. Es ist ja wirklich eine latente Problematik, gar keine Frage. Aber das ist, glaube ich, inzwischen auch bei der Politik angekommen, dass das wirklich nicht zu unterschätzen ist. Die Verantwortlichen auf der Landesebene hatten das eher begriffen, glaube ich, vielleicht auch, weil es ja noch extremere Gegenden gibt als hier. Ich war mal zu einer Veranstaltung im Rahmen der Interkulturellen Woche in Angermünde eingeladen. Wir gingen in eine ganz kleine Kirche rein, da war ein Gospelkonzert, und davor standen junge kampfbereit wirkende Neonazis in Größenordnungen. Welcher Otto-Normal-Verbraucher, oder wie man ihn auch immer nennt, der abends vor dem Fernseher sitzt, der sich um nichts weiter großartig kümmert oder sich Gedanken macht, kriegt so etwas eigentlich wirklich mit? Man muss sich da schon hinbegeben. Mir wurde noch mal so richtig deutlich, was damals in unserem Nachbarkreis in der Uckermark los war. Ich denke, in Eberswalde war das nicht mehr so stark ausgeprägt. Mal davon abgesehen, dass ich das gar nicht genau einschätzen kann, aber für mein subjektives Empfinden war es so, dass wir damals im Jahr 2000 das hier nicht mehr so in Massen hatten. Das hat sicher viel mit all den Aktivitäten zu tun, die sowohl von der Stadtseite als auch von Seiten der Zivilgesellschaft geleistet wurden. Dieses Netzwerk hat in Untergruppen gewirkt und viele Veranstaltungen organisiert, hat sich im Plenum getroffen, hat an dem Thema gearbeitet. Durch die damals gegründete Koordinierungsstelle unter der Leitung von Dr. Mohamed Hamdali wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema wesentlich intensiviert. Dessen Nachfolger, Kai Jahns, arbeitet verstärkt auf der praktischen Ebene im Rahmen von Projekten. Also war hier immer ein Gegenpol vorhanden. In vielen anderen Orten gab es das nicht. Die Bernauer Verhältnisse kann ich wirklich nicht so genau einschätzen, weil ich da nur zur Beratung bin. Aber ich erinnere mich, an einen Abend bei der Evangelischen Jugendarbeit. Da saßen Leute, bei denen man sich fragte, was sie da wollen. Also schon allein deren Aura, du kannst es förmlich riechen oder spüren, dass die gegen dich sind oder dass die da jetzt gerade was organisieren oder zumindest sich polemisch äußern wollen.

Interviewerin: Waren die Nazis in Eberswalde isoliert in der Stadt, oder gab es auch Leute, die da mitgelaufen sind, etwa bei der Demo? Gab es also eine klare Trennung zwischen Nazis und Bürgern?

Marieta Böttger: Das weiß ich nicht. Ich glaube, dass es natürlich auch Mitläufer gibt. Das habe ich beim letzten Landtagswahlkampf erlebt, als die DVU auftrat und Menschen dabei waren, von denen ich das nicht gedacht hätte, dass sie offen Wahlkampf für die DVU machen. Wenn die dann mit ihrem Biedermann-Gehabe kommen, ist das immer noch mal eine andere Geschichte, als mit diesen jungen Männern in Springerstiefeln. Mit denen sympathisierte man eher hinter vorgehaltener Hand, glaube ich. Das war doch ein bisschen zu eindeutig rechts und auch immer so ein Gewalthabitus. Das, glaube ich, wollte letztendlich nun doch keiner. Das ist nur mein persönliches Empfinden.

Interviewerin: Aber genau darum geht es ja: Wenn Sie jetzt gucken, 20 Jahre mit den Entwicklungen, die dann da vonstatten gegangen sind, haben Sie das Gefühl, es hat sich nachhaltig was verbessert oder verändert? Könnte das heute auch wieder passieren, gerade wenn man die damalige Stimmung mit der heutigen vergleicht?

Marieta Böttger: Ich weiß, dass sich vieles geändert hat, dass die Stadt da sehr aufmerksam ist und auch entsprechend reagiert. Dass dieses Thema immer wieder „beackert“ wird und dergleichen mehr. Aber ich weiß auch, dass es gerade in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft durchaus ziemlich viele Vorbehalte gibt, auch rassistisch begründete Vorbehalte, aber niemand sagt von sich, er sei Rassist. Die ganze Diskussion um die Umbenennung eines Teilstücks der Eberswalder Straße in Amadeu-Antonio-Straße ist ja das beste Beispiel. Und nun hat die Stadtverwaltung dem Druck der Straße nachgegeben, will dafür das Bürgerbildungszentrum nach dem Angolaner benennen, und auch da gibt es wieder den harschen Bürgerprotest. Das wollen sie nicht, sie sagen, der Mann hat ja schließlich keine Leistungen für die Stadt vollbracht. Es geht dabei aber gar nicht in erster Linie um eine Ehrung, sondern um eine Mahnung, aber das will keiner begreifen. Es ist, denke ich, nach wie vor ganz stark verbreitet, und so richtig mit dem Thema auseinandergesetzt hat man sich auch noch nicht, weil das ja oft auch unter Fremdenfeindlichkeit verbrämt wurde. Mit Rassismus setzt man sich nicht so gerne auseinander, weil man sich dann mit sich selbst beschäftigen muss und all dem, was man so selbst mit der Muttermilch aufgesogen hat. Und wir sind ja schließlich alle die Guten, und insofern gibt es Rassismus bei uns nicht. Das ist, denke ich, wirklich nach wie vor ein ziemliches Problem. Also, ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass solche Vorfälle nicht wieder passieren, aber die Reaktionen wären andere, das weiß ich.

Interviewerin: Ich habe noch mal ganz konkrete Nachfragen. Zunächst – Sie meinten, dass es einen Prozess wegen eines Übergriffs auf eine Frau Anfang der 1990er Jahre gab. Können Sie dazu etwas Genaues sagen?

Marieta Böttger: Ja, Anfang der 1990er Jahre gab es neben dem Angriff auf Amadeu Antonio und seine Freunde weitere Übergriffe. Das muss 1991 gewesen sein. Die Leute sind teilweise in den eigenen Wohnungen oder auf offener Straße angegriffen worden. Damals wohnten alle in der Altstadt von Eberswalde. Und aus einem dieser Angriffe heraus ist die Frau eines Afrikaners sehr stark am Kopf verletzt worden. Das wurde auch zur Anzeige gebracht, und es gab einen Prozess, an dem ich nicht beteiligt war. Ich habe das nicht mitgekriegt, aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls konnte man angeblich die Täter nicht identifizieren. Dann wurde das immer wieder verschoben, und etwa um die Jahrtausendwende, also nach gut acht oder neun Jahren, gab es dann beim Landgericht in Potsdam noch mal einen Revisionsprozess, und auch da ist am Ende nichts weiter erfolgt, weil das Opfer nach den langen Jahren nicht mehr sagen konnte, wer was wann wie getan hat. Dann hat unsere Rechtsprechung ihre Grenzen.

Interviewerin: Die nächste Frage ist: Es muss ein Aussiedlerheim gegeben haben, in Basdorf oder Klosterfelde. Gab es da irgendeine Geschichte, ein Angriff oder etwas in der Art?

Marieta Böttger: Das ist mir nicht bekannt. Wir hatten ganz viele Heime zwischendurch, aber ist mir wirklich nicht bekannt.

Interviewerin: Aber der Vorfall in Eberswalde, als das Heim abgebrannt wurde: War das das einzige Mal, wo es solche Angriffe oder ähnliches gab? Oder gab es auch Belagerungen des Heims, wie wir es aus Frankfurt (Oder) kennen, wo öfter mal Gruppen von 10,20 Leuten vor dem Heim rumgehangen haben, rumgepöbelt haben und auch mal eine Flasche geworfen haben?

Marieta Böttger: Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass es zum Beispiel in Serwest ganz große Vorbehalte gab gegen ein Heim gab. Deutlich wurde das schon in der Bürgerversammlung, die wir ja damals auch schon im Vorfeld durchgeführt haben. Und dann kamen die Leute, und wir hatten eine ganz rührige engagierte Bürgermeisterin in dem Ort, die Barbara Kempe. Die hat ganz schnell dafür gesorgt, dass da Kontakte hergestellt wurden. Aber nach kurzer Zeit mussten die Leute wieder weg, denn es gab ein bundesweites neues Verteilsystem. Man hat die Menschen wirklich wie Waren bewegt. Die hatten sich da gerade so ein bisschen miteinander angefreundet, und dann mussten diese Flüchtlinge Brandenburg wieder verlassen, und einige Serwester waren sehr traurig. Also von weiteren Übergriffen auf ein Heim ist mir jetzt wirklich nichts bekannt.

Interviewerin: Ist ja interessant, dass es im Fall von Serwest also auch anders geht. Ich habe noch eine Frage zu dieser Straßenumbenennung, können Sie das noch mal in ein paar Sätzen zusammenfassen, was da gemacht werden sollte?

Marieta Böttger: Ich weiß gar nicht, wie lange das jetzt her ist. Ich glaube, zum 15. Todestag hatten einige die Idee, das Gedenken anders zu gestalten. Es ist ein Open-Space-Prozess eingeleitet worden mit ganz vielen Schülern aus verschiedenen Eberswalder Schulen, und im Ergebnis hat sich eine Gruppe gebildet, die sich „Light me Amadeu“ nennt. Diese entstand unter der Federführung der Evangelischen Jugendarbeit, die auch immer wieder den Gedenktag mit vorbereitet. Auch seine Freunde, seine ehemaligen Kollegen sind dort aktiv gewesen, die teilweise noch heute in Eberswalde leben. Seit 2011 trat „Light me Amadeu“ öffentlich dafür ein, dass anlässlich seines 50. Geburtstages ein Teil der Eberswalder Straße in Amadeu-Antonio-Straße umgenannt werden sollte, zur Erinnerung und Mahnung. Vom Eberswalder Bürgermeister wurde diese Idee öffentlich begrüßt. Zum 49. Geburtstag im August 2011 haben wir uns vor Ort getroffen und schon mal ein provisorisches, zeitweiliges Schild angebracht. Und dann formierte sich auf einmal der Widerstand innerhalb der Bevölkerung, wobei ein paar Leute besonders zielgerichtet vorgegangen sind. Sie meinten: „Dann müssten wir aller Toten gedenken.“, und haben angefangen, alle in einen Topf zu werfen, von Kriegsopfern über Opfer der sowjetischen Besatzungszeit bis zu Opfern sexueller Gewalt. Wir haben dann gesagt: „Das geht so nicht, das geht auf keinen Fall.“ Dann gab es einen Workshop. Im Ergebnis dessen hatte sich rauskristallisiert, dass es eine Mehrheit dafür gab, dass das sich im Umbau befindliche Bürgerbildungszentrum in Amadeu-Antonio-Zentrum umgenannt wird. Und ich dachte: „Na ja, die Straße ist zwar authentischer, das ist der Ort wo es passiert ist, aber so ein Bildungszentrum ist ja auch nicht ganz verkehrt, das wäre ja mit einem inhaltlichen Anspruch verbunden.“ Und nun auf einmal formiert sich dagegen wieder der Widerstand. Es ist schon sehr eigenartig. Die Kommentare, die man auch in der Zeitung liest, sprechen eine deutliche Sprache. „Was hat der Herr denn für uns getan?“ Damit meint man Amadeu Antonio. An diesem Punkt spürt man sehr deutlich, wie die Leute wirklich denken.

Interviewerin: Sie sagen, der Widerstand formiert sich sowohl bei der Straßenumbenennung als auch bei diesem Bildungszentrum. Was heißt denn das genau? Was sind das für Leute? Was machen die und wie schätzen Sie das ein?

Marieta Böttger: Otto-Normal-Verbraucher. Das ist die bürgerliche Mitte. Bei all diesen Veranstaltungen habe ich einen einzigen Typen wieder gesehen, den wir in der rechten Ecke verorten. Ganz hochintelligenter Mann von der ehemaligen Fachhochschule, der das alles mit seinen wissenschaftlichen Thesen untermauert. Jörg Schröder heißt er, glaube ich, aber ansonsten waren Bürgerinnen und Bürger da, Malermeister, ehemaliger Ingenieur aus dem Walzwerk mit seiner Frau, ehemalige Lehrerin, und und und. Also das ist eher die Gruppe von 50-70, die unter dem Deckmantel der Demokratie sagt: „Wir wollen mitbestimmen und wir wollen das nicht, uns hat niemand gefragt und schon deshalb sind wir dagegen und außerdem, was hat denn dieser Mann für unsere Stadt getan? Dann müssen wir auch Ulrike gedenken, ein Mädchen, das von einem Pädophilen umgebracht wurde. Aber wir sind keine Rassisten, wir helfen auch armen Afrikanern.“ Das ist so der Mainstream. Es gibt da noch ein paar sehr aggressive Töne, die werden aber ganz einfach toleriert, weil sie dem Ziel dienen. Da werden Unterstellungen in die Welt gesetzt, was die Afrikaner alles so getan hätten. Das will ich jetzt mal nicht vertiefen. Es ist jetzt wirklich haarig, was da für eine Kampagne losgetreten wurde.

Interviewerin: Kampagne – was heißt das? Die haben eine Bürgerversammlung gemacht, die sie selbst initiiert haben?

Marieta Böttger: Sie haben mehrere Bürgerversammlungen organisiert und die Kampagne "Das fünfte Gebot“ gegründet. Sie wollen einen Gedenkstein für alle, auf dem draufsteht: „Du sollst nicht töten“. Einige haben Emails in die Welt gesetzt, deren Inhalt grenzwertig ist, und sie haben eine Unterschriftensammlung initiiert und inzwischen weit über 4000 Unterschriften gesammelt. Und damit fühlen sie sich natürlich voll im Recht, weil sie die Mehrheit verkörpern. Ich glaube, sie haben sich vorher noch nie für irgendwelche Volksbefragungen oder Volksabstimmungen interessiert, aber an diesem Punkt jetzt, wollen sie eine Volksabstimmung.

Interviewerin: Gegen die Umbenennung.

Marieta Böttger: Ja, denn dann wird klar, wie die Bürger dieser Stadt ticken.

Interviewerin: Und wie verhält sich dazu die Kommunalpolitik?

Marieta Böttger: Sehr unterschiedlich. Es ist so ungefähr Hälfte, Hälfte. Ich weiß nicht, wie die Entscheidung ausgeht im Kulturausschuss, dort hat es Äußerungen dafür und auch dagegen gegeben. Da geht es jetzt aber um die Umbenennung des Bürgerbildungszentrums, man muss schauen, wie sich die Kommunalpolitik insgesamt dazu verhält. Ich habe am 24. Februar, dem Tag, als auf bundespolitischer Ebene der Opfer des NSU gedacht wurde, angenommen, dass die Stadtverordnetenversammlung an so einem Tag gar keine andere Entscheidung treffen kann, als für die Umbenennung der Straße zu stimmen. Das Ergebnis hat mir bald die Beine weggehauen, ich hatte damit wirklich nicht gerechnet.

Interviewerin: NSU ist ja auch noch mal ein aktuelles Stichwort. Hätten Sie gedacht, dass es heute noch solche Gewalt gibt? Damals, haben Sie gesagt, haben die Pogrome Sie nicht überrascht. Sie haben gesagt, dass das das gesellschaftliche Klima war, da hat Sie nicht überrascht, dass es zu Lichtenhagen kam. Und Sie haben auch gesagt, dass das auch woanders passieren hätte können als in Eberswalde. Hat Sie das jetzt überrascht vor einem Jahr im November?

Marieta Böttger: Ja. Die Aversion und viele Feindbilder sind zwar vorhanden und dieses Einteilen in „die Anderen“ und „wir Einheimischen“. Auch in Bernau in einer Schule habe ich gehört: „Wir müssen doch erst mal sehen, dass wir an unsere Kinder denken.“ Sind die anderen nicht ihre Schüler? Aber mit dieser Gewaltbereitschaft oder mit dieser bitteren Konsequenz? Da fehlen mir Kenntnisse über das, was sich eigentlich so in den Untergruppen der NPD oder der freien Kameradschaften formiert hat. Das ist ja auch nicht so ganz mein Thema. Also mich hat es überrascht.

Interviewerin: 2006 haben in Dortmund und in Kassel jeweils mehrere tausend vor allem Migranten und migrantische Communities demonstriert, dass es kein 10. Opfer geben soll. Die haben das schon ganz klar als eine Nazi-Mordserie auch bewertet und haben auch die Politik und die Polizei angesprochen, dass sie endlich aufklären sollen, wer das jetzt ist und was die da machen.

Marieta Böttger: Da ist wieder die Rolle der Presse, auch wenn das dann nicht so deutlich wird. Ich kann nur sagen, mich hat es überrascht, zumal ja neben den migrantischen Opfern auch die Polizistin ums Leben gekommen ist und ihr Kollege, übrigens der Neffe von einer Kollegin, schwerst verletzt wurde. Der Mann ist bis heute ein absolutes Opfer, völlig invalidisiert, und vorher war er ein junger, gesunder, sportlicher Mensch. Ich habe den Zusammenhang nicht gesehen und natürlich, natürlich steckt auch so ein Stückchen weit der Stachel in einem, wenn man von „Dönermorden“ hört oder was da immer erzählt wurde. Man traut es ihnen doch auch zu und nimmt es lieber und eher an, als dass es hier die deutschen Staatsbürger sind, die das machen. Ich glaube, das hat Methode. Und die hat sich bei mir verfangen in dem Moment. Ich meine, ich bin schon kritisch, aber ich hätte das nie so damit in Zusammenhang gebracht. Obwohl, vielleicht war es auch nicht so deutlich, dass das alles zusammengehört. Die Geschichte in Rostock war ja ziemlich eindeutig, letztendlich, das war nicht der klassische Fall. Wird ja auch immer was erzählt von Schutzgelderpressung und dass die Händler sich vielleicht gewehrt haben, so etwas gibt es ja auch alles. Das Leben ist ja sehr bunt. Ich finde schon, dass wir da auch uns in die Verantwortung nehmen müssen, also nicht uns selbst, aber unsere Netzwerke. Die Aufgabenstellung sollte sein, so etwas in Zukunft zu verhindern. Dass wir so etwas auch sehen, dass wir unsere Augen weiter öffnen. Ein Aspekt ist sicherlich auch, dass viele Leute gar nicht damit gerechnet haben, dass so etwas in der Form möglich ist, ohne der Polizei aufzufallen. Jetzt wissen wir, dass die Polizeistrukturen vieler Bundesländer und deren Geheimdienst irgendwie mit drinhängen. In Berlin gibt es jetzt gerade einen neuen Skandal. Aus manchen Städten kennt man das Problem: „Bei der Polizei muss man lieber vorsichtig sein, da gehe ich nicht hin, ich mache keine Anzeige.“ Jedenfalls kenne ich das von früher, dass man Anzeigen gegen Nazis bei bestimmten Polizisten einfach nicht gemacht hat, weil man wusste, dass die das den Nazis direkt weitersagen. Dass es aber so etwas immer noch gibt, passt nicht zu dem Bild von der geläuterten Demokratie.

Interviewerin: Sie hatten vorhin gemeint, dass es die ganzen Nazis in Eberswalde gab, die mit Springerstiefeln rumgelaufen sind. Das waren zum Teil gut situierte Jugendliche aus Familien, die dann auf einmal nicht mehr da waren, nicht mehr so präsent waren in der Öffentlichkeit. Können Sie sich denn vorstellen, dass der Herr Malermeister von vorhin in so rassistischen Initiativen von Bürgern wieder auftaucht?

Marieta Böttger: Ich weiß wirklich nicht, wo die geblieben sind. Einige waren ja auch meine ehemaligen Schüler, deshalb hat mich der Gerichtsprozess persönlich so interessiert. Die sehe ich im Moment nicht. Eventuell sind doch ganz viele weggegangen, weil sie hier keine Arbeit hatten. Insofern ist das schon eine Suggestivfrage. Ich weiß es wirklich nicht, aber zumindest kann ich mir kaum vorstellen, dass sie jetzt anderer Meinung sind. Wenn dann nicht jemand ein Aussteigerprogramm durchläuft oder sich wirklich ernsthaft durch persönliche andere Freundschaften, durch die große Liebe, oder wen auch immer, mit dem Thema noch mal anders auseinander etzt, dann bleiben die da auch ein Stück weit drin stecken. Das kann mir keiner erzählen. Aber der Herr Malermeister, der ist jetzt 70, der ist ganz engagiert in der Katholischen Kirche, und ich will dem ja auch nichts unterstellen, aber mich bewegt die ganze Zeit die Frage: „Warum habe ich vorher noch nie was von diesem Menschen gehört?“ Das ist doch spannend. Warum regt der sich jetzt so auf, warum opfert der seine Freizeit, seine vielen, vielen Feierabende, um genau an diesem Thema dranzubleiben und immer wieder der Stadt vorzuwerfen, dass sie den Bürgerwillen ignoriert. Ist doch eigenartig, oder?

Interviewerin: Das ist wirklich eigenartig, das hat mich auch überrascht, mit was für einer Vehemenz sich gegen ein Gedenken gewehrt wird. Dass das noch nicht angekommen ist in breiten Teilen, wenn es denn tatsächlich um das Image der Stadt gehen sollte, dass es dann der bessere Weg wäre, ein angemessenes Gedenken zu finden, als nach wie vor zu verleugnen. Deshalb auch die Frage: Was macht die Kommunalpolitik damit?

Marieta Böttger: Ich denke, dass die Kommunalpolitik da schon jetzt eine relativ klare Haltung hat. Festgelegt wurde, nachdem immerhin zwei lange Abende während des Workshops geackert wurde, dass es ein Antirassismuskonzept geben wird, welches in der Stadt entwickelt wird. Dass Unterrichtsmaterialien entwickelt werden, speziell für Eberswalde und den Umgebungsbereich, damit die Kinder auf diese Weise ihre eigene relativ neue Geschichte besser nachvollziehen können. Der Wunsch nach dieser Benennung des Bürgerbildungszentrums ist ja auch von der Stadtverwaltung herangetragen worden. Schwierig, aber gut vorstellbar ist eben, die Mehrheit der Stadtverordneten davon zu überzeugen, die sich auf einmal so ganz stark daran orientieren, was ihre Wählerinnen und Wähler von ihnen wollen. Bei keinem anderen Thema in Eberswalde ist das bisher so gelaufen. Das ist schon eigenartig.

Interviewerin: Seit Jahren steht das Heim in Althüttendorf in der Kritik. Ist denn nun schon klar, wann das Althüttendorf Heim geschlossen wird?

Marieta Böttger: Der Vertrag läuft im Sommer 2015 aus. Mehr kann ich da noch nicht zu sagen. Ich werde mich auch nicht mehr aus dem Fenster hängen. Ich habe irgendwann mal im Sozialausschuss gesagt, mein großes Ziel ist, dass diese Heim im neuen Jahrtausend nicht mehr betrieben wird. Jetzt haben wir 2012. Inzwischen gibt es ja auch soviel an Öffentlichkeitsarbeit, an Publikationen, an Veröffentlichungen, dass eine Verlängerung nicht mehr zu vertreten ist.

Interviewerin: Was ist das Problem mit Althüttendorf?

Marieta Böttger: Althüttendorf ist ein uraltes Heim. In den 30er Jahren für den Autobahnbau gebaut, in der DDR-Zeit als Ferienlager genutzt und noch erweitert durch Bungalows. Vor allen Dingen die Leute in den Bungalows sind arm dran, weil da keine Toiletten drin sind, die müssen also immer über den Hof. Und Althüttendorf liegt am Rande eines Dorfes, das macht es schon schwierig. Die Leute sind sehr freundlich und die kommen auch gut miteinander aus. Das ist wirklich über die Jahre gewachsen, aber sie haben dort kaum irgendwelche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung im Ort. Für mich ist vor allen Dingen der bauliche Zustand der große Knackpunkt.

Interviewerin: Seit wann wurde das Heim benutzt?

Marieta Böttger: Seit 1990. Das kann im Sommer auch idyllisch sein, aber die Leute sind das ganze Jahr über da. Zum Glück ist es inzwischen so, dass Familien nach spätestens zwei bis drei Monaten in Wohnungen kommen.

Interviewerin: Ist das mittlerweile eine etablierte Praxis, sodass Sie jetzt nicht mehr um jede Wohnung einzeln kämpfen müssen?

Marieta Böttger: Da hat es sich sogar direkt umgedreht. Manchmal sagen die Leute jetzt: „Nein, wir wollen nicht raus.“

Interviewerin: Das ist ja schon mal ein Fortschritt, dass es das Problem nicht gibt, eine Wohnungen zu bekommen oder überhaupt aus dem Heim rauszukommen.

Marieta Böttger: In den letzten Jahren haben wir ca. 400 Personen in Wohnungen untergebracht. Das war schon spannend, das mal so zu rekapitulieren.

Interviewerin: Werden Sie Ihren Job noch eine Weile machen?

Marieta Böttger: Ich habe mir noch 5 Jahre vorgenommen, dann bin ich 63 und ich denke, dann höre ich auf. Es ist ja auch ein Job, wo man immer zwischen allen Stühlen sitzt. Dem einen macht man nicht genug, dem anderen macht man zuviel. Aber trotzdem ich habe wirklich nicht bereut, damals in diese Arbeit eingestiegen zu sein.

Interviewerin: Ja, es ist auf alle Fälle viel passiert seit dem. Haben Sie vielen Dank!