Interview mit Uta Leichsenring
Interviewer: Nach den Jahrestagen der rassistischen Pogrome von Hoyerswerda und Rostock fragen wir uns, was eigentlich in unserer Region Ostbrandenburg los war. Was sagen die Zeitzeugen, die die betroffen waren? Was bedeutet das, was vor 20 Jahren passierte, für uns heute? Wir kennen Sie in Ihrer damaligen Funktion als Polizeipräsidentin. Wie und wann sind Sie nach Eberswalde gekommen ?
Uta Leichsenring: Ich bin zum ersten Juli 1991 in die Funktion nach Eberswalde gekommen. Den ganzen Aufbaustab für die Polizeipräsidien gab es erst seit dem 1.10. 91. Dem ist die Verabschiedung des Polizeiorganisationsgesetzes nach der Landtagswahl 1990 voraus gegangen. Da wurde unter anderem festgeschrieben, dass die Polizeipräsidien im Land Brandenburg von zivilen politischen Beamten geführt werden sollen. Das ist damals Konsens im Landtag gewesen.
Zwei ganz wichtige Prämissen waren die Neuorganisation und die zivile Führung der Polizei. Die zivile politische Führung hat mich überzeugt. Sie war rückblickend eine gute Entscheidung der Brandenburger Politik, was man ja in 20 Jahren nicht von allen sagen kann. Über die Führung der Polizei wird immer debattiert, ob eine größere Polizeistruktureinheit durch höhere Polizeivollzugsbeamte geführt wird, oder ob die politisch geführt wird. Diese zivile politische Führung war damals auch ganz wichtig für die Wiederherstellung oder überhaupt erstmal für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses Bevölkerung-Polizei.
Ja, und da bin ich vom Innenminister gefragt worden, ob ich mir vorstellen kann, beim Neuaufbau mitzuwirken. Ich war ja parteilos und bin es heute. Ich fand das unglaublich spannend, in so einer Umbruchszeit an etwas ganz Neuem mitzuwirken: Neuaufbau der Polizei, neue Ausrichtung von einer Polizei in einer Diktatur zu einer demokratischen und auch offeneren Organisation. Das Prozedere war so, dass die Polizeipräsidenten von den einzelnen Fraktionen vorgeschlagen wurden, und das Kabinett hat das bestätigt. Wir waren anfangs sechs Polizeipräsidien. Das Land Brandenburg war aufgeteilt in fünf Landpräsidien und ein Wasserschutzpräsidium. Und eines der Landpräsidien war eben Eberswalde, gebildet aus sechs Landkreisen. Die nord-nord-östlichen Landkreise, Barnim, die heute zu Barnim/Uckermark gehören. Das ist so unglaublich, was sich da historisch in relativ kurzer Zeit auch strukturell verändert hat. Das waren die Kreisämter der Polizei in Bernau, Eberswalde, Bad Freienwalde, Angermünde, Schwedt und Prenzlau. Diese Kreise sind damals zusammengefasst worden zu einem Polizeipräsidium. Das heißt also, das Polizeipräsidium Eberswalde ist nicht mit hervorgegangen aus einer Bezirksbehörde der Polizei. Das sind nämlich noch mal andere Dimensionen. Und dieses vergleichsweise kleine Präsidium ist auch mit vergleichsweise wenig Personal gestartet in dieser Neuorganisation der Polizei. Und hinzu kommt, dass mit dem späteren Landkreis Uckermark der größte Flächenkreis überhaupt der Bundesrepublik dazu gehört. Große Flächen mit vergleichsweise wenig Bevölkerung ist polizeilich schwer zu händeln, womit wir dann schon fast beim Thema sind.
Interviewer: Aber Sie waren aus der Region hier?
Uta Leichsenring: Ich bin in Wilhelmshorst aufgewachsen bei Potsdam. Die Polizeipräsidien sollten möglichst Landeskinder sein, wie es so schön hieß. Ich fand diese politische Entscheidung vom Landtag Brandenburg instinktiv recht gut. Also ich habe das gemerkt in Kontakten mit der Bevölkerung in der Region. Die sind mir anders begegnet als einem Polizeiführer im höheren Dienst. Die Bevölkerung sah ja in der Polizei sozusagen das staatliche Repressionsorgan, das sich noch nicht anpassen konnten. Die Staatssicherheit hingegen trat ja zum Beispiel nicht offen in Erscheinung. Aber die Polizei hatten sie vor Augen. Und auf die Polizei fokussierte sich damals sehr viel Unmut. Die Polizei wurde für manches verantwortlich gemacht. Für vieles war sie es, aber eben nicht für alles verantwortlich. Eine neue Polizei mit anderem Selbstverständnis und demokratischen Grundsätzen aufzubauen, ist das eine, aber das auch glaubwürdig nach außen zu vertreten, ist das andere, und da war diese zivile Führung sehr gut geeignet.
Interviewer: Und nachdem Sie dann die Entscheidung für das Amt getroffen hatten, wie fühlten Sie sich da in der Situation des Umbruchs?
Uta Leichsenring: Das waren natürlich Polizisten, die jahrzehntelang angetreten waren, um sozusagen die Herrschaft einer Partei und ihrer Führung, das ganze Zentralkomitee aufrecht zu erhalten, Polizisten die weniger für die Bevölkerung da waren. Mir war klar, dass aus dieser Polizei nicht von heute auf morgen eine werden würde, die sich öffnet und die transparent ist, die für den Bürger da ist.
Die Polizei war wie alle anderen auch ein militärisches Organ. Normalerweise ist die Polizei kein Militär. Aber genau so waren sie aufgebaut, strukturiert, und mit diesem Machtanspruch trat sie in der Region gegenüber den Bürgern auf. Und das bei jedem Einzelnen, der in der Polizei ist, zu verändern, dass das eine Weile braucht, das war mir schon klar.
Zwar gab es in dieser Zeit ein geschriebenes Recht, aber viele Menschen meinten doch, es herrsche jetzt ein rechtsfreier Raum und eine rechtsfreie Zeit. Mit dieser falsch verstandenen Freiheit wurden wir, wurde die Polizei konfrontiert. Dem galt es, etwas entgegenzusetzen, aber das Wesentliche war, es sollte natürlich nicht militärisch etwas entgegen gesetzt werden. Diese militärische Prägung der Polizei war ganz ganz deutlich. Es ist auch verständlich, wenn Menschen in einer stark hierarchisch geprägten militärischen Struktur über einen langen Zeitraum aufwachsen, dann prägt die das. Und das zu verändern ist dem einen schwerer gefallen, dem anderen vielleicht nicht zu schwer. Aber insgesamt war mir klar: eine neue Polizei kann man sich nicht backen. Die können wir ja nicht alle nach Hause schicken und dann erstmal neu ausbilden. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Die konnten wir nicht warten und danach sagen: „Jetzt fangen wir wieder an.“ In einer Zeit, in der viele eine völlig falsch verstandene Freiheit auslebten, ging das natürlich nicht. Die Kriminalitätsrate stieg, alles ist gestiegen. Es gab zwar keine Statistiken von früher. Aber im Verhältnis zu den Altbundesländern, da konnte man vergleichen. Das Verkehrsunfallwesen ist unglaublich gestiegen, die allgemeine Kriminalität ist gestiegen, und vor allen Dingen, was erschreckend war und von Anfang an auch sichtbar war, war die Gewalt, verschiedene Gewaltphänomene. Sowohl im Umgang miteinander bei Jugendlichen, Jugendgruppengewalt, aber dann auch sehr früh das, was wir heute als politisch motivierte Gewalt bezeichnen.
Das waren die Herausforderungen einerseits, und andererseits aber eine noch sehr stark verunsicherte Polizei. Die innere Neuausrichtung, der innere neue Aufbau, die starke Verunsicherung über die ganze Zeit hin, das ganze Jahr 1990 praktisch von der Wende an, bis klar war in welche Richtung die Polizei neu strukturiert werden soll. Da sind anderthalb Jahre vergangen. Und das war eine Zeit der Unsicherheit innerhalb der Polizei, das habe ich sehr stark gespürt.
Interviewer: Als Sie von den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock gehört haben, was haben Sie damals gedacht?
Uta Leichsenring: Da kann ich nicht nur Hoyerswerda und Rostock nennen, da muss ich gleich Amadeu Antonio in Eberswalde dazwischenschieben. Damit bin ich als erstes konfrontiert worden, als ich nach Eberswalde kam. Amadeu Antonio ist am 6. Dezember 1990 gestorben, circa sieben Tage vorher wurde er zusammengeschlagen von, ja, Neonazis wie in dem heutigen Sinne könnte man sie gar nicht nennen, es waren rechtsorientierte, radikale und sehr gewaltbereite Jugendliche. Eine Jugendgruppe, ein Teil von denen musikalisch Heavy-Metal-Anhänger. Aber immer gewaltbereit, rassistisch, ausländerfeindlich. So heißt es ja bei der Polizei, ausländerfeindliche Straftat ist ja rassistisch, was anderes ist es ja nicht. Und diffus, diffus rechtsradikal, rechtsorientiert, aber nicht mit einem festen Weltbild.
In Eberswalde bin ich damit gleich konfrontiert worden. Aber sowohl die polizeilichen als auch die staatsanwaltlichen Ermittlungen sind ganz schleppend angelaufen. Dazu muss man natürlich wissen: die Polizei hat recht und schlecht funktioniert. Die Justiz ist in der Größenordnung, wie sie benötigt wurde, erst später aufgebaut worden. Und die größte Schwierigkeit war schon: es können ja nicht Kollegen gegen sich selbst ermitteln.
Es ist ja nicht nur gegen Jugendliche ermittelt worden, es sind ja auch Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet worden. Die ersten drei Monate war ich noch nicht im Amt, da war noch die Bezirksbehörde der Volkspolizei verantwortlich in Frankfurt (Oder). Ich habe von Anfang an in meiner Amtszeit in Eberswalde mich darum bemüht, dass die Ermittlungen so forciert werden, wie es nötig ist. Aber da ist bereits fast ein Jahr vergangen. Die Täter waren zum Teil ermittelt worden. Und was ich dann rekapituliert habe, was an diesem Tag in Eberswalde vor sich gegangen ist, das war sehr erschreckend. Erschreckend deswegen, weil es einerseits ein Ausdruck der Unsicherheit innerhalb der Polizei war. Meine Schlussfolgerung daraus war, nachdem die Fakten und die Ermittlungsberichte dazu auf dem Tisch lagen, dass es hätte verhindert werden können. Das ist auch heute immer noch meine Auffassung. In Eberswalde ist die Gruppe vorher durch die Stadt gezogen, bevor alles zu spät war. Hatte schon Straftaten, wie Sachbeschädigung an Autos, begangen. Und keiner fühlte sich irgendwie bemüßigt, dagegen etwas zu tun.
Das hätte verhindert werden können, auch unter den damaligen schwierigen Bedingungen.
Das bedrückt mich die ganze Zeit. Es wird auch nicht vergehen, dass ich immer denke: „Dies hätte verhindert werden können.“ Wenn mehr Sensibilität da gewesen wäre, mehr Aufmerksamkeit, wenn die Polizei eher eingegriffen hätte an diesem Abend. Eher eingegriffen heißt – die Gruppe ist ja durch Eberswalde gezogen – wenn sie sie von der Straße weggeholt hätten. Sie hätten sie nicht zu dem afrikanischen Treffpunkt gehen lassen dürfen. Und auch die Ratschläge, die es vor Ort gegeben hat, die waren völlig falsch.
Interviewer: Können Sie da noch mal mehr zu sagen?
Uta Leichsenring: Diese Gruppe Jugendlicher ist mit dem Ziel „Hüttengasthof“ durch Eberswalde gezogen und hat auch Autos demoliert. Der „Hüttengasthof“ war der Ort in Eberswalde, an dem sich die afrikanische Community traf, die ehemaligen Vertragsarbeiter, heute organisiert im afrikanischen Kulturverein. Der Polizei wurde bekannt, dass sie in diese Richtung ziehen. Es gab nicht diesen Funkverkehr wie heute, es gab einen operativen Diensthabenden. Die uniformierten Polizisten hatten Funkkontakt zur Leitstelle, dem operativen Diensthabenden. Und die Befehle, die dann gegeben wurden, die wurden gegeben unter dem Aspekt, möglichst keine Eskalation zu provozieren – also ließ man sie erstmal laufen. Das Zauberwort hieß Deeskalation. Und Deeskalation heißt aber nicht Nichtstun, das ist dann ganz offensichtlich ein bisschen verwechselt worden. Jedenfalls sind die lange beobachtet worden, und es wurde bekannt, dass die in Richtung Gasthof gehen. Und da wurden den afrikanischen Vertragsarbeitern und dem Wirt geraten, am besten ist das Verlassen des Gasthofes. Auch das war natürlich falsch, weil die raus auf die Straße und denen quasi in die Arme gelaufen sind. Und in der Nähe vom „Hüttengasthof“ ist eine chemische Fabrik gewesen. Vor Ort waren drei Zivilpolizisten, die ihrerseits aber keinen Kontakt zur Leitstelle, diesem operativen Diensthabenden, hatten. Die konnten nur von dem Pförtnerhäuschen aus telefonieren. Die waren in zivil und nicht in Uniform, und als es dann zu dieser Eskalation kam, als die afrikanischen Vertragsarbeiter von dieser Jugendgruppe eingekesselt wurden, konnten die meisten noch fliehen und wegrennen. Aber Amadeu Antonio nicht mehr, der war sozusagen drin. Und was da drin passierte, haben die Zivilpolizisten nicht gesehen. Weil sie in der Minderzahl waren, haben sie auch nicht eingegriffen. So hat mir mal einer versucht, das zu erklären. Der ist damit auch nicht richtig klar gekommen. Der hat dann auch aufgehört bei der Polizei. Aber die hatten immerhin Schusswaffen. Nun ist der Gebrauch von Schusswaffen an bestimmte Bedingungen geknüpft, aber Warnschüsse wären in dem Fall auf jeden Fall gerechtfertigt gewesen. Die haben also von der Waffe nicht Gebrauch gemacht, sie sind aber von hinten an die Gruppe ran, weil sie ja, wie gesagt, in der Unterzahl waren und konnten nicht erkennen, was da drin passierte. Aber dass die einen drin hatten, das haben sie wohl gesehen. Wie soll ich sagen, es gab verschiedene Gelegenheiten und verschiedene Zeiten, wo man das hätte stoppen können und verhindern können. Und das ist etwas, das mich wirklich all die Jahre von Anfang an auch immer bedrückt hat. Das kann man auch nicht wiedergutmachen mit einem Urteil. Urteile hatte es ja gegeben, das waren ohnehin Jugendstrafen. Hat auch ganz lange gedauert, bis es zum Prozess kam und Urteile gefällt wurden. Das macht aber einen Mensch nicht wieder lebendig.
Interview: Noch mal zu der Eberswalder Polizei: War die Polizei der Aufgabe gewachsen?
Uta Leichsenring: Sie war der Situation in sofern nicht gewachsen, als dass sie es unterschätzt haben. Sie haben die Gewaltbereitschaft unterschätzt. Das haben mir mehrere Polizisten gesagt. Nachdem ich mir die Unterlagen angeguckt habe, habe ich mit allen gesprochen, die beteiligt waren. Der eine sagte: „Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie einen Menschen totschlagen.“ Dann die Verunsicherung, falsch verstandene Deeskalationsstrategie. Das kam sozusagen aus dem Westen, die Polizei soll deeskalieren, Situationen entschärfen. Aber das ist falsch verstanden worden. Am Anfang hatten sie dann eher mal lange zugeguckt und nichts gemacht. Deeskalation heißt nicht, nichts machen. Das war es wohl in der Hauptsache. Und die Zivilpolizisten haben von der Pförtnerwache aus auch angerufen, und daraufhin sind dann die uniformierten Polizisten mit Einsatzwagen und Martinshorn zu diesem Platz gefahren, und diese Jugendgruppe hat dann abgelassen und ist weg, aber Amadeu Antonio lag am Boden und war bewusstlos. Die Einsatzkräfte waren vor Ort, und Amadeu Antonio lag am Boden. Da lag der am Boden und die Täter konnten zum großen Teil ermittelt werden, so weit weg waren sie dann auch noch nicht, als die Einsatzwagen kamen. Er lag noch drei Wochen im Koma und ist dann am 6. Dezember gestorben. Und von einigen Polizisten weiß ich es, dass die damit schwer zu tragen hatten, insofern, als dass sie ihre Schuld gesehen haben, sich also auch schuldig gefühlt haben.
Interviewer: Und wie war da die Reaktion vom Besitzer des „Hüttengasthofes“? Oder der Anwohner, Passanten, wer auch immer da in der Umgebung mit dabei war oder was mitgekriegt hat?
Uta Leichsenring: Das war nachts, da werden nicht viele Anwohner und Passanten gewesen sein. Der Ort ist eine Kreuzung zwischen Eberswalde und Finow, wo gar nicht viele Leute wohnen. Da war die Eisenspalterei, das ist ein alter Betrieb, und dann diese chemische Fabrik gegenüber von dem Gasthof. Dem Wirt kann man nicht unbedingt einen Vorwurf machen. Der hat sie gewarnt und hat gesagt, geht mal lieber nach Hause. Eigentlich hätten sie drin bleiben müssen, da waren sie ja noch halbwegs geschützt. Draußen dann gar nicht mehr. Aber da kann man dem keinen Vorwurf machen, nach meiner Erinnerung hat er das auf Anraten der Polizei getan. Aber das kann ich jetzt nicht 100%ig mehr sagen.
Interviewer: Welche rassistischen Pogrome oder Neonaziüberfälle neben dem Mord an Amadeu Antonio haben Sie denn in der Zeit noch erlebt?
Uta Leichsenring: Es ist jetzt 20 Jahre her und für mich doch schwer, die einzelnen Vorfälle zeitlich einzuordnen. Es gibt immer mal welche, an die man sich besonders erinnert, aber zum Beispiel, der Tod eines Mädchens, das muss auch schon 1992 gewesen sein in Schwedt. Sie hieß Melanie, 15 Jahre alt. Das war auch eine rechtsorientierte Gruppe Jugendlicher. Sie gehörte wohl dazu. Ich kann die Umstände nicht mehr ganz genau erinnern, aber es war Mord. Da hat bei uns die Mordkommission ermittelt. Ob nachher im juristischen Sinne es als Mord angeklagt wurde, weiß ich nicht mehr genau. Es waren ja alles 15/16-Jährige. In Schwedt haben wir es sehr mit rechts orientierter Gewalt zu tun gehabt. Die Jugendgewalt war unglaublich stark in diesen kleinen Städten. Gewaltbereite Jugendgruppen, die waren auch immer ausländerfeindlich, und die waren immer diffus rechts orientiert. Noch nicht mit diesem klaren Weltbild und nicht in irgendwelchen Strukturen eingebunden, die sich erst später entwickelten. In den ländlichen Regionen haben sich die NPD mit ihren Jugendorganisationen und die Kameradschaften erst später gebildet. Das kam dann alles so nach und nach in den 90ern. Am Anfang der 90er waren es gewaltbereite Jugendgruppen, und weil das so war, erinnere ich mich auch sehr oft gehört zu haben: „Naja, das sind eben gewalttätige Jugendliche, aber das ist nicht politisch motiviert.“ Ganz einfach war es eben nicht. Es gab mit Sicherheit sowohl in der Polizei als vor allen Dingen auch bei politisch Verantwortlichen eine Unterschätzung des Problems, und gegen diese Unterschätzung des Problems anzukämpfen, darin habe ich meine Aufgabe gesehen. Das Abwiegeln, es ist eben „einfach nur“ Jugendgruppengewalt, das war es eben nicht. Es war schon erkennbar, dass da mehr dahinter stand. Diese Gewalt hat sich ja oft gegen Andersdenkende gerichtet. Davon können die Leute im „Literaturcafé“ aus Angermünde ein Lied singen. Ich war oft dort, und die sind regelmäßig überfallen worden. Es ging gegen die Asylbewerber, oft mit Sachbeschädigungen der Asylbewerberheime, und auch gegen ausländische Arbeitnehmer, die gab es ja dann schon. Es gab einen gravierenden Fall in Dedelow in der Uckermark, aber das war 1998. Das war der italienische Bauarbeiter. Ich war bei ihm in Eberswalde im Krankenhaus und hatte vergleichsweise lange Kontakt mit der kleinen Gruppe Bauarbeiter. Der Fall hat mich schon sehr berührt.
Mit der zeitlichen Einordnung ist das schwierig. Ich glaube, wir brauchen nur in die Statistik gucken. Da fällt mir das ein oder andere, und auch die Umstände fallen mir dann wieder ein. Also Schwedt, die Sache in Dedelow, die Sache mit dem Lehrer in Schwedt... Wenn Sie wirklich nur nach Ereignissen Anfang der 90er fragen, dann wird es schwierig, das zog sich ja hin über die 90er Jahre. In Schwedt ist zum Beispiel auch ein Lehrer von rechten Jugendlichen schwer zusammengeschlagen worden am Rande einer Veranstaltung. Dann gab es dieses „Agag“-Projekt, sagt Ihnen das was?
Das erste Programm der Bundes nach der Wiedervereinigung gegen Jugendgewalt und Radikalität. Daraus sind verschiedene Einrichtungen, gerade auch in der ländlichen Region, gefördert worden, und ja, ein bisschen Personal ist eingestellt worden. In diesem Projekt ist vieles schief gelaufen. Da können Ihnen die Kollegen der Opferperspektive wahrscheinlich einiges dazu sagen. Das gab es auch in Eberswalde, das gab es in Schwedt, und da waren zum Teil jedenfalls hoffnungslos überforderte Betreuer in diesen Jugendeinrichtungen. Zum Teil haben sich erst in diesen Einrichtungen die rechts orientierten Jugendlichen richtig gefunden und sich von dort aus strukturiert. Eigentlich könnte man dieses Projekt durchaus als gescheitert betrachten. Das war gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Und in Schwedt, erinnere ich mich, ging von diesen im Programm betreuten Jugendlichen eine ganze Menge Gewalt aus, gegen Andersdenkende und vor allen Dingen gegen Ausländer. Das war dann aber wirklich ein Problem des „Agag“-Programms, dass man etwas verhindern wollte und zum Teil dadurch mit gefördert hat. Ausgebildete Sozialarbeiter gab es noch nicht. Die Sozialarbeiter in dieser Anfangszeit haben dieses Phänomen Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus wirklich ziemlich unterschätzt.
Interviewer: Gab es da in Ihrem Bereich Vorfälle ähnlich der rassistischen Pogrome, wie man sie aus Hoyerswerda oder Rostock kennt?
Uta Leichsenring: In Hoyerswerda kenne ich jetzt die näheren Umstände nicht ganz genau. Es war ja das Heim für Vertragsarbeiter und ein Asylbewerberheim in einem. Mit der Einrichtung und Öffnung der ersten Asylbewerberheime ab 1992 in meinem Zuständigkeitsbereich habe ich ähnliches erlebt. Die Ablehnung der Bevölkerung sowieso erstmal. Ablehnung der Asylbewerberheime eben bis zur versuchten Verhinderung, also Verhinderung des Bezugs von Aslybewerberheimen.
Interviewer: Was heißt „versuchte Verhinderung“?
Uta Leichsenring: Versuchte Verhinderung hieß, Teile der Bevölkerung haben sich davor über mehrere Tage versammelt und wollten verhindern, dass das überhaupt bezogen wird, dass die Flüchtlinge nach der Fertigstellung überhaupt erst kommen. Das habe ich zum Beispiel in Prenzlau so erlebt.
Aber die Ablehnung in großen Teilen der Bevölkerung ermutigte wiederum Teile der Jugendlichen, die ein diffuses rechts-orientiertes Weltbild hatten, die rassistisch eingestellt waren. Auch wenn jetzt die Älteren nicht direkt tätlich geworden sind, aber sie haben das Gefühl gegeben: „Wenn ihr dagegen was macht und wenn ihr Gewalt anwendet, sei es erstmal Sachbeschädigung, Fenster einschmeißen oder Überfälle, dann habt ihr unsere Rückendeckung, ihr habt unseren Beifall.W Das war ganz deutlich.
Pogrome wie in Rostock gab es nicht in dieser Art und nicht in der Größenordnung. Es gab Anpöbeleien, es gab auch Überfälle auf Einzelne und Gruppen.
Und als dann die Meldung über Rostock kam, da waren wir drei Polizeipräsidenten gemeinsam bei einer Besprechung. Ich habe gesagt, das wäre hier in der Region nicht möglich gewesen. Warum? Weil es in der Polizei inzwischen einen Lernprozess gegeben hatte. Das hing natürlich auch mit dem Fall Amadeu Antonio zusammen. Mal abgesehen davon waren die Verhältnisse in Rostock deutlich anders, ein riesiges Heim in einem Neubaugebiet.
Und was da in Rostock abgelaufen ist, das ging ja über mehrere Tage und über Nächte. Rostock, das ist nach meiner Wahrnehmung sowas außergewöhnlich Negatives gewesen, sowohl das Agieren der Polizei als auch das Verhalten der Bevölkerung. Ich habe später dann Gelegenheit gehabt, die Protokolle des Untersuchungsausschusses dazu zu lesen. Dabei hat es mir die Zornesröte richtig ins Gesicht getrieben. Also was da möglich gewesen war, das hat mich dann nicht nur erschreckt, das hat mich richtig wütend gemacht, insbesondere wütend auf die Polizei, die dem nicht Einhalt geboten hat. Und das hätte man auch geschafft. Mit entsprechend vielen Kräften und mit der klaren Einschätzung der Lage hätte man das geschafft. Davon bin ich fest überzeugt.
Interviewer: Und warum wurde es nicht?
Uta Leichsenring: Ja, und das ist dann die Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe. Führungsmängel insgesamt, teilweise auch wieder eine Unterschätzung, falsche Führung vor Ort. Was da sonst noch eine Rolle spielt, weiß ich nicht. Es gibt ja und gab auch immer den Vorwurf, dass die Polizei sich bewusst zurückhielt zum Beispiel. Das geht natürlich aus keinem Polizeibericht hervor. Es fehlte wohl auch an klaren Signalen seitens der Politik, dass Rassismus konsequent entgegen getreten wird, für die Polizisten vor Ort der Rückhalt der Politik.
Aber das war Rostock. Die Heime hier waren erstmal nicht so groß, dann waren sie am Rande der Städte, was es aber in manchen Fällen auch schwer gemacht hat. Wenn wir Hinweise hatten, da braut sich was zusammen, da gibt's irgendwo eine Gruppe und die verabreden sich, um „Ausländer aufzuklatschen“, wie es in deren Jargon hieß, dann gab und gibt es in den ländlichen Bereichen andere Schwierigkeiten, weil die Entfernungen groß sind. Aber wir hatten eine funktionierende Struktur in jeder Kreisstadt, eine rund um die Uhr besetzte Wache, die damaligen Schutzbereiche.
Große Pogrome gab es also nicht. Aber es gab – und gibt – immer einen artikulierten und auch unterschwelligen Rassismus. Und in den 90er Jahren konstatierten wir dann nach und nach den Aufbau der Kameradschaften. Das waren dann schon Rechtsextreme mit festen Strukturen. Der erste Versuch in Ostbrandenburg, in Nordostbrandenburg, in Eberswalde politisch rechtsextreme Strukturen aufzubauen, ging nach meiner Erinnerung von Michael Kühnen aus, der einige Jahre später verstarb.
Der war damals ein Führer der Rechtsextremen in Westdeutschland und wollte die NPD gründen, was aber zu dieser Zeit bis Mitte der 90er noch nicht gelang – später schon.
Dann waren die Republikaner sehr aktiv, die haben alle Fuß gefasst im Osten und haben natürlich versucht, auch Jugendliche zu rekrutieren. Das war vergleichsweise schwer, weil die Jugendlichen ihre eigene Gruppen hatten. Also ideologisch waren die schon auf einer Linie, aber die wollten sich nicht in feste Strukturen einbinden lassen, und deswegen hat man die ersten 90er Jahre mit diesen gewaltbereiten rechtsorientierten Jugendgruppen zu tun. Wobei örtlich schon klar war, wer der harte Kern ist und wer weiteres Umfeld. Was noch in dieser Zeit sehr zunahm, das waren die rechtsradikalen, rechtsextremen Konzerte. Die gingen da richtig los. Die Organisatoren sind gern aufs Land gegangen, weil es nicht auffiel, und es gab es auch noch genug Örtlichkeiten, große Gasthöfe mit Saal. Es wurde nicht sofort erkannt, was sich da entwickelte. Und am Rande solcher Konzerte, die ja immer heimlich durchgeführt wurden, gab es regelmäßig Überfälle und Schlägereien. Selbst wenn man es nicht als Pogrom bezeichnet oder was wir darunter verstehen, war es schlimm genug und war eine Herausforderung und Verpflichtung für staatliches, politisches und zivilgesellschaftliches Handeln, gewalttätigem und Alltagsrassismus deutlich entgegen zu treten.
Interview: Denken Sie, dass in der Zeit in den kleineren Städten auch kein Potential da war für solche Pogrome? Oder gab es das Potential und wenn, wie war die Einschätzung vor Ort?
Uta Leichsenring: Wir als Polizei hatten uns ja sehr intensiv mit den Heimbetreibern und mit den Trägern auseinandergesetzt. Das waren meistens noch die Kreise. Wir haben ziemlich früh intensiv zusammengearbeitet, und insofern gab es auch Kommunikationswege mit den Heimen. Versuchte Überfälle gab's, die Heime waren ja immer außerhalb der Orte. Und versuchte Überfälle, das hat es immer mal gegeben, auch Brandsätze wurden geschmissen. Aber es ist nicht mehr zu pogromartigen Stimmungen gekommen, in der Region hier jedenfalls nicht – so wie ich sie
damals in Prenzlau gespürt hatte. Das Asylbewerberheim eröffnete neben einer Schule oder in der Nähe einer Schule. Als sich Teile der Bevölkerung dagegen mobilisierten, war ich mit dem Landrat an einem Samstag vor Ort, wo uns schon diese Pogromstimmung entgegenschlug. Das war dann später nicht mehr so.
Es sind meist wenige, besonders negative Ereignisse und Bilder, die einem besonders im Gedächtnis bleiben. Wenn Sie in der Funktion einer Polizeipräsidentin sind, dann sind Sie mit mehr oder weniger Gewalt in unterschiedlicher Dimension fast immer konfrontiert.
Dieses Ausmaß an Gewalt hat mich allerdings insgesamt erschreckt. Und mir war immer wichtig auch zu ergründen, wo das eigentlich herkommt: Was ist da überhaupt der Hintergrund? Warum machen die das, und warum sind sie so geworden, und warum haben sie keine Empathie für andere Menschen? Wie ist das sozusagen so explodiert?
Also etwas explodierte da im Osten, was latent immer vorhanden war, wo der Deckel drauf war und nun ist der Deckel runter, ich meine der Deckel Repressionsstaat DDR. Es wurde nie drüber gesprochen, gibt es Rassismus in diesem Land? Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Was ist der verordnete Antifaschismus, ist der wirklich verinnerlicht? Das waren ja alles keine Themen, das waren Tabu-Themen. Mir ist damals klar geworden, auch wenn es ein verordneter Antifaschismus oder verordnete Solidarität war: Da ist nicht viel hängengeblieben. Das war auch eine meiner ersten großen Enttäuschungen von meinen Landsleuten. Da hatte ich mehr erhofft.
Das ist ja im Grunde genommen meine Generation, ich war damals etwas über 41. Ich bin ein Kind der DDR, ich habe das ganze Schulsystem durchlaufen. Ich bin von zu Hause aus mit Empathie gegenüber anderen Menschen erzogen. Für mich gibt es so einen Gedanken nicht, dass andere Menschen weniger Wert sind oder ungleichwertig sind, wäre bei mir nie aufgekommen.
Es gab nicht selten rassistische Sprüche, weniger in der Öffentlichkeit; mal in den Kneipen am Stammtisch und hinter vorgehaltener Hand, was im übrigen häufig in den Stasiakten zu lesen ist.
Selten wurde es verfolgt.
Dass so wenig verinnerlicht wurde, auch wenn es staatlich verordnet war, das hat mich schon enttäuscht: Aber es hat mich dann auch wieder angespornt. Nicht nur von Berufs wegen, sondern auch mit Blick auf die Zivilgesellschaft etwas zu tun. Das war für mich der Punkt, an dem ich sagte: „Es ist nicht nur mein Amt. Die Polizei hat ihre Aufgabe, der wird sie mehr oder weniger gut gerecht, das ist das Amt.“ Aber ganz wichtig, weil mir das eben auch die Beispiele sehr deutlich gezeigt haben, ist es, die Bevölkerung aufzurütteln, zu aktivieren, zu sensibilisieren. Das hatte Rostock gezeigt, die Leute haben danebengestanden, und wenn sie nicht dort Beifall geklatscht haben, dann haben sie es zum Teil heimlich getan.
Das hat mich erschreckt, aber auch unglaublich motiviert, meine Kraft dafür einzusetzen, dem etwas entgegen zu setzen, bis heute noch.
Solche Entwicklungen gab es damals in allen Bundesländern.
Ich bin überzeugt, dass es das in Eberswalde in der Form wie Rostock selbst nicht mehr gegeben hätte. Schon ziemlich früh haben wir Strukturen gegen Rechtsextremismus, gegen rechtsextreme Jugendgruppen aufgebaut. Natürlich immer auch unter dem Druck dessen, was passiert war. Der Vorfall mit Amadeu Antonio hat das mit ausgelöst. Gerade innerhalb der Polizei. Aber natürlich müssen Sie in so einer Führungsfunktion ganz klare Signale aussenden, was Sie von ihrer Polizei erwarten, wie sie damit umzugehen hat.
Das trifft auf Bürgermeister und Landräte ganz genauso zu. Man hat die Macht des Wortes, man hat die Macht der Funktion, und wenn man diese Macht im Sinne von Verantwortung auch wahrnimmt, dann hat man eine Vorbildwirkung. Und das ist etwas, was ich all die Jahre versucht habe auch all denen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, erstens klar zu machen, aber zweitens darüber vor allen Dingen auch die Zivilgesellschaft zu aktivieren. Und da gehören die politisch Verantwortlichen egal auf welcher Ebene im Ort, in der Region, im Landkreis dazu. Wenn Bürgermeister, Landräte, also die politisch Verantwortlichen für eine bestimmte Region, wenn die nicht klar und deutlich signalisieren, dass sie Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus nicht akzeptieren, wenn sie nicht klar und deutlich ihre Ablehnung zeigen, ja wie soll dann der Bürger das Verantwortungsbewusstsein entwickeln können, dass er selber und jeder Einzelne dem auch entgegentreten muss? Also für mich hat das ganz klar was mit Vorbildwirkung zu tun, und das war für mich auch immer eine Selbstverständlichkeit. Und aus meinem Amt heraus bin ich natürlich gehört worden. Was aber nicht heißt, dass andere nichts machen können. Jeder kann an seinem Platz etwas machen.
Interviewer: Wie wurde vor 20 Jahren gesellschaftlich und kommunalpolitisch mit der rassistischen Gewalt umgegangen? Was ist politisch passiert, und wie hat die Kommunalpolitik agiert?
Uta Leichsenring: In Eberswalde und auch in den kleineren Städten wurde allgemein zunächst das Problem unterschätzt. Das traf so ziemlich auf alle zu. Sowohl auf die kommunal Verantwortlichen, die Stadtpolitiker, aber eben auf die Bevölkerung ganz genau so. Es ging los mit den ersten rechten Aufmärschen in den 90er Jahren. Die haben sich ja die Kleinstädte ausgesucht, weil sie, nicht ganz zu Unrecht, davon ausgegangen sind, dass ihnen dort am wenigsten entgegengesetzt wird. Sowohl zivilgesellschaftlich als auch von staatlicher Seite, von der Polizei. Sie sind eben nicht in Berlin aufmarschiert. Rings um Berlin sind einige Städte, wo sie dann mit Vorliebe aufmarschiert sind oder heute teilweise noch oder wieder aufmarschieren. Neuruppin ist ja jetzt auch so ein Ort. Damals hatten wir in Eberswalde, Angermünde, Prenzlau bis Schwedt überall solche Aufmärsche. Ich kann mich an eine Hilflosigkeit der kommunal Verantwortlichen erinnern: „Was machen wir damit, wie gehen wir damit um? Was können wir überhaupt machen?“ Und da war der erste Ruf immer nach der Polizei: „Verbieten!“ Immer die Frage, ob wir es nicht verbieten können. Dann hab ich mal gehört: „Da soll die Polizei ordentlich draufhauen, und dann löst sich das Problem von selber.“ Das löst sich natürlich nicht von selber. Es war dann meine Aufgabe, klar zu machen, was rechtlich möglich ist, es gab ja ein Versammlungsrecht und Polizeirecht. Versammlungsrecht ist übrigens etwas, was immer sehr schwierig ist für Kommunalpolitiker, für Ehrenamtliche sowieso. Damals waren diese ganzen Rechtsfragen, bis hin zu Grundrechten, weitgehend unbekannt. Besonders schwer zu verstehen war zum Beispiel Versammlungsrecht. Am liebsten wollten die Verantwortlichen alles verbieten. Na, und ich habe dann den Bürgermeistern gesagt: „Nehmen Sie Ihre Kommunalpolitiker im Stadtparlament, gucken Sie, wo engagierte Bürger sind in dem Ort, und dann setzen wir uns zusammen. Und dann reden wir erstmal darüber, was rechtlich geht und was nicht geht. Und dann reden wir darüber, was eigentlich so eine Stadt machen kann. Was können die Bürger mit ihren Kommunalpolitikern – oder umgekehrt: die Kommunalpolitiker mit ihren Bürger gemeinsam machen?“ Und so haben sich nach und nach – das ist jetzt alles eine verkürzte Darstellung – Bürgerbündnisse und Netzwerke gegründet. Das war vergleichsweise früh, Mitte der 90er Jahre die ersten. Ich weiß noch, wie ich in Angermünde – da war ein Aufmarsch angekündigt – den Bürgermeister gebeten habe, er soll - er muss zu einem Treffen einladen, nicht ich. Ich habe auf dem Treffen vom Versammlungsrecht gesprochen und dann über die Anmeldung und die Route der Rechtsradikalen. Die wollten natürlich auf den Marktplatz. Das Zentrum des Ortes soll vereinnahmt werden, das ist eine Machtdemonstration. Und dann hab ich ihnen auch deutlich gemacht, wenn sie in der Stadt was organisieren, zum Beispiel eine Gegenveranstaltung, wenn sie keine eigene Demo machen wollen, dann melden sie die auf dem Marktplatz an und der Marktplatz gehört der Stadt und nicht den Rechten. Dann wird deren Route verändert. Das war damals hochkompliziert. Aber das Entscheidende, was mir immer überall begegnet ist, war Hilflosigkeit gepaart mit Unterschätzung des Problems und mit der Hoffnung, dass man, was einem unangenehm ist, verbieten kann. Das war fast in jeder Kleinstadt so.
Und daraus hat sich aber was entwickelt, ob das Eberswalde, ob das Angermünde, ob das Schwedt ist, irgendwann waren es auch die Bürgermeister, vor allem in Schwedt und Angermünde, die sich dann tatsächlich an die Spitze setzten.
Ich habe ihnen auch immer gesagt, sie müssen Vorbild für die Leute in der Stadt sein, die haben sie ja gewählt. Wenn das die Kommunalpolitiker nicht machen, dann fühlt sich der Bürger Müller-Meier-Schulze auch nicht herausgefordert, etwas dagegen zu tun.
Und da ist es eben gut, wenn es Kontinuitäten in der Besetzung von Funktionen gibt, wenn sie lange zusammenarbeiten können. Kontinuität in der Zusammenarbeit zwischen Polizeiführern und Kommunalpolitikern ist gerade bei diesem Thema ganz wichtig. Wichtiger als zum Beispiel Verkehrsunfallgeschehen, allgemeine Kriminalität, die haben sie immer auf einem bestimmten Niveau. Gerade bei rechtsextremen Gewalttaten, bei Rechtsextremismus und bei Rassismus überhaupt und den damit verbundenen Straftaten ist das ganz wichtig. Gerade hier ist die Prävention besonders wichtig, ebenso wie zum Beispiel Kleingartenanlagen vor Einbrüchen zu schützen. Das wird man nie ganz verhindern können, aber hier ist es eben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wie in meinem Präsidium, hat sich in Brandenburg im Laufe der 90er wirklich einiges positiv entwickelt: Sensibilität, Problembewusstsein, spezielle polizeiliche Strukturen, die sich nur mit Prävention und auch Verfolgung von rechtsextremen, antisemitischen und rassistischen Straftaten befasst haben.
Wobei ich jetzt schon mitbekommen habe, da ist auch wieder einiges zurückgedreht worden. Vielleicht, weil auf die Statistik geguckt wird. Jedenfalls, soweit ich noch Kontakt habe und soweit ich jetzt informiert bin, ist im Zuge der Polizeistrukturreform auch einiges verändert worden. Nicht unbedingt nur positiv, wie ich finde, und auch Entwicklungen zeigen das.
Allerdings stecke ich nicht mehr mittendrin, kann also nicht mehr alles so genau beurteilen. Und bei den Straftaten gibt es auch immer Wellenbewegungen. Die Rechtsextremen sind weiterhin aktiv, egal ob strukturiert oder auch eher unstrukturiert. Aber heute sind fast alle strukturiert über die Kameradschaften und die Jugendorganisation der NPD. Der Vernetzungsgrad und auch der Strukturgrad haben ja unglaublich zugenommen. Es sind ja nicht mehr wie Anfang der 90er diese Jugendgruppen.
Da wäre es nach meiner Auffassung ganz wichtig, dass man dem mehr strukturell entgegensetzt in den staatlichen Institutionen, sowohl bei der Polizei als auch bei der Justiz.
Interviewer: Am Rande von diesen Aufmärschen, wie war denn da so die Stimmung in der Bevölkerung?
Uta Leichsenring: Abwartend zunächst. Und auch da war es ein längerer Prozess, dass sich über die Jahre immer mehr an den Gegenveranstaltungen beteiligt haben. Zum Beispiel kamen die ersten Gegendemonstranten in Eberswalde überwiegend aus Berlin. Natürlich auch mit negativen Begleiterscheinungen. Wir hatten in Eberswalde Gegendemonstrationen, die waren dominiert vom sogenannten schwarzen Block, den gibt's heute gar nicht mehr so.
Das war in gewisse Weise durchaus spannend, wie sie agiert haben. Die Begründung war ja: Wenn die eigene Bevölkerung das nicht schafft, dann müssen wir das machen. Aber eben auch mit negativen Begleiterscheinungen. Auch ging von dort teilweise Gewalt aus. Aber es war der Tatsache geschuldet, dass die Bevölkerung sich sehr abwartend verhalten hat und, ich sage mal so, aus dem Fenster geguckt hat. Da haben diese Bündnisse und Netzwerke für ein demokratisches Eberswalde, in Angermünde, Schwedt, und in Prenzlau nach und nach was bewirkt. In kleinen Städten wird man nicht 10.000 Leute auf die Beine kriegen, aber auf jeden Fall gab es zunehmend Gegendemonstrationen und kreative Gegenveranstaltungen. Es ist immer auch die Frage der Größenordnung und des Kräfteverhältnisses. Die Rechten gehen dort hin, wo sie die Hoffnung haben, dass sie auch in der Überzahl sind.
Interviewer: Wie bewerten Sie abschließend Ihr Handeln heute?
Uta Leichsenring: Ich sehe eine positive Entwicklung über die 90er Jahre, die ich ja mit begleitet habe. Vor allen in zivilgesellschaftlichen Dingen, und da glaube ich, da habe ich schon eine Aktie dran. Für mich war es auch deutlich, dass, wenn man ein Amt hat, dann muss man eben auch mit der Kraft seines Amtes wirken. Aber ich weiß auch, man darf nie aufhören. Auch wenn die rechtsradikalen Strukturen sich verändern und Leute nicht mehr da sind. Auch wenn die Statistik nicht so viele Straftaten ausweist. Es kommt wieder, es ist ein Potential da und das verändert sich, die Strategien verändern sich. Gerade im Rechtsextremismus haben wir sehr stark veränderte Strukturen. Und wir werden es immer damit zu tun haben. In welcher Größenordnung ist jetzt mal eine andere Frage, aber wir werden immer damit zu tun haben, und deswegen ist es einfach notwendig, da dran zu bleiben, es ist ein Dauerthema.
Interviewer: Wie bewerten Sie denn heute das damals Geschehene?
Uta Leichsenring: Einerseits war es ein Ausdruck von hochgradiger Verunsicherung in Teilen der Bevölkerung. Jeder Umbruch führt zu gravierenden Veränderungen.Viele wurden arbeitslos von heute auf morgen, haben nicht Fuß gefasst. Und wenn Menschen Probleme haben, dann suchen sie sich einen, der noch schwächer ist, und sie suchen einen Sündenbock. Und das war deutlich damals Anfang der 90er, als die Flüchtlinge verteilt wurden auf die Kreise und die Asylbewerberheime eingerichtet wurden. Denn wer da vor den Asylbewerberheimen stand und das verhindern wollte und seinem Unmut Luft gemacht hat, konnte man schon ziemlich genau sehen. Und dass es aus der Mitte der Bevölkerung kam, das konnte man auch sehen. Selbst wenn da immer Jugendliche, oft alkoholisiert, sozusagen die Vollstrecker waren - die waren instrumentalisiert, und wo es eigentlich her kam, war unüberseh- beziehungsweise hörbar.
Dann der schleppende Aufbau der staatlichen Institutionen oder der Umbau, hat manches möglich gemacht, was sicherlich heute so nicht möglich wäre. Obwohl ich mich manchmal wundere, was es heute noch an rechtsextremen Vorfällen gibt und wo nicht rechtzeitig eingegriffen wird.
Da denke ich jetzt gerade auch an meinen jetzigen Arbeitsort Sachsen-Anhalt. Ich bin jetzt sieben Jahre da, da hat es einige Vorfälle gegeben, die zu kritisieren waren.
Eine ganz wesentliche Erfahrung, und mir so wichtig, ist, dass die politisch und institutionell Verantwortlichen auch ihre Verantwortung wahrnehmen; an jeder Stelle und in der Hierarchie auf jeder Ebene. Wenn es dort an Problembewusstsein und Sensibilität mangelt, dann gibt es auch immer wieder diese sogenannten Pannen. Als Polizeipräsidentin kann ich nicht in die Köpfe meiner Polizisten reingucken, aber ich sehe, wie sich die Menschen verhalten, und daraus kann man Schlussfolgerungen ziehen.
Auch ich war 1995 einmal mit antisemitischen Äußerungen konfrontiert. Aus Anlass des 50. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Ravensbrück und Oranienburg hatte die Landesregierung die Überlebenden aus aller Welt zu einem Treffen eingeladen.
Unser Präsidium hatte die Einsatzführung beim Schutz der Teilnehmer Ein Polizist ärgerte sich, dass er bei schönstem Sommerwetter nicht in seinen Garten konnte und hat sich im Kollegenkreis antisemitisch geäußert.
Und in dieser kleinen Gruppe von Polizisten ist es eben nicht unter der Decke gehalten, sondern thematisiert worden innerhalb des Präsidiums. Und das ist wichtig, dass alle auch merken, es wird derartiges Fehlverhalten nicht unter den Teppich gekehrt. Es gibt natürlich den negativ besetzten Corps-Geist, den wird's in Teilen auch immer geben. Das muss aufgebrochen werden. Dass Fehler in der Organisation gemacht werden, wird's auch immer wieder geben, aber das unter den Tisch Kehren darf es nicht geben.
Interviewer: Hätten Sie sich vorstellen können, von damals ausgehend, dass so eine Entwicklungen bis zum heutigen NSU möglich wäre?
Uta Leichsenring: In vielerlei Hinsicht ist es für mich nicht vorstellbar. Also einmal, dass sich dieser Rechtsextremismus so militant entwickelt, eigentlich nach all dem, was wir hier erlebt haben seit Anfang der 90er, und wir haben die Entwicklung verfolgt, wie Strukturen aufgebaut wurden und die einzelnen Strukturen auch ihr Taktik beziehungsweise ihre Strategie verändern. Und dass es dennoch möglich ist, dass sich ein militanter Rechtsextremismus im Untergrund so entwickelt, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber noch viel schlimmer, wie ich finde, ist diese mangelnde Kommunikation, Kooperation, Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Sicherheitsdiensten. Das war schon in den 1990er Jahren, als der Verfassungsschutz hier aufgebaut wurde, in jedem neuen Bundesland natürlich ein Thema, die Zusammenarbeit Polizei und Verfassungsschutz. Wie weit müssen sie zusammenarbeiten, was muss an Informationen ausgetauscht werden? Und dass das nicht immer ohne Reibereien abgeht, das kenne ich auch.
Aber dass so etwas möglich ist, dass die Dienste sozusagen nebeneinander her agieren. Und die Informationen, die ja anscheinend reichlich da waren an verschiedenen Stellen, nicht zusammengeführt und nicht ausgetauscht wurden über die Bundesländer hinweg, das ist mir ein Rätsel. Seit Anfang der 1990er war immer, während des Neuaufbaus der Polizei, und der Strukturen der Justiz, war immer auch die länderübergreifende Zusammenarbeit ein Thema.
Es wurde recht schnell deutlich, dass die Rechtsextremen nicht vor Ländergrenzen halt machen. Wenn zum Beispiel Konzerte in Brandenburg nicht stattfinden konnten, weil es einen Hinweis gab und das im Vorfeld unterbunden wurde, dann zogen die sich nach Sachsen-Anhalt zurück oder umgekehrt.
Interviewer: Was schockiert Sie jetzt mehr: Dass es möglich ist oder dass es nicht entdeckt wurde, oder dass es nicht frühzeitiger aufgedeckt wurde?
Uta Leichsenring: Also wenn am Anfang den Anfängen nicht gewehrt wird, dann ist es möglich, dass es sich so entwickelt. Dass die in den Untergrund abgetaucht sind, darauf gab es Hinweise.
Ein bisschen vielleicht vergleichbar mit Eberswalde 1990. Eine ganze Weile beobachten und nichts tun mit dieser Gruppe, bis es zu spät ist. Es ist ja nicht etwas nicht aufgedeckt worden. Sondern es ist beobachtet worden und es ist die Nicht-Reaktion und – noch schlimmer – die einseitigen Ermittlungen. Nach all den Erfahrungen, die wir alle haben, also alle, die wir mit Polizei, mit Verfassungsschutz, mit Justiz zu tun haben, nach all den Erfahrungen der letzten 20 Jahre oder meinetwegen der 10 Jahre vor dem Abtauchen in den Untergrund, bei dem was alles bekannt war, finde ich das hoch skandalös.
Man macht die Toten nicht lebendig, das weiß ich auch, aber... Ja ein Stück kommt dann wieder Hilflosigkeit durch. Hier hab ich mich dann wieder gefragt: Was kann die Zivilgesellschaft tun? Es gibt eine Grenze für zivilgesellschaftliches Engagement oder für zivilgesellschaftliche Gegenwehr, dann nämlich, wenn es ein militanter Untergrund wird. Da sind die Sicherheitsbehörden gefragt. Die Zivilgesellschaft kann das Versagen von Sicherheitsinstitutionen nicht wettmachen.
Interviewer: Haben Sie eine Idee, woher dieses Versagen gekommen ist?
Uta Leichsenring: Ich habe ja vorhin mal von der Unterschätzung des Problems geredet. Wenn nämlich zum Beispiel die Statistik mal ein bisschen besser aussieht als vor Jahren, verfällt man immer in so ein Muster des Unterschätzens. Und dann gibt es natürlich Kompetenzgerangel, aber hier hatte es gravierende Folgen. Das Sitzen auf Informationen, die nicht Preis gegeben werden an andere, mit denen ich eigentlich zusammenarbeiten müsste. Das Nebeneinander agieren, das Nebeneinander her arbeiten und einseitige Ermittlungsrichtung.
Interviewer: Dann erstmal ein ganz großes Dankeschön für die Zeit, die Sie geopfert haben.